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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Kollektiven, und welchen Platz das eine im anderen hat und wie sich das eine durch das andere fassen, gestalten, formulieren lässt. Margit Hubers Beruf, Gesangslehrerin, war die klassische Ausnahme, wofür sie von den anderen auch ein wenig verachtet wurde. Eine
dompteuse d’animaux
. Denn auch Dobrovans Grundanliegen war ähnlich, sie hatte ursprünglich ihren Körper aus dieser ganzen veralteten, von hinterhältigen und also überflüssigen Bewegungen erfüllten Welt, die ihre Gefühle unterdrückte, herausretten wollen.
    Nach ihrem fatalen Unfall waren ihr die Augen und die Hand als Ausdrucksmittel geblieben, ihr Zeichentalent und ihre Neigung zum Kunsthandwerk.
    Sie wurde Textilentwerferin, Weberin, und arbeitete mit Modeschöpfern zusammen.
    Das Handwerk hatte sie von ihrem litauischen Freund gelernt, der es seinerseits von einer uralten Pariserin übernommen hatte, und wahrscheinlich zahlten beide mit ihrer zögerlichen Liebe dafür. Sie suchte nach praktischen Lösungen, nach Mitteln und Wegen, wie die persönliche, individuelle Phantasie mit den Ansprüchen der Masse zu vereinbaren war, das heißt nach den Methoden, mit denen das Handwerk an die industrielle Produktion geknüpft werden konnte. Oder auch umgekehrt danach, auf welche Art die neuen technischen Möglichkeiten der industriellen Produktion den Geschmack der Massen auf eine höhere Stufe heben konnten. Den um etliches jüngeren Madzar kannte keine von ihnen, aber sie sprachen die gleiche Sprache eines asketischen Funktionalismus, wenn auch sicherlich in verschiedenen Mundarten.
    Sie verstanden und schätzten auch gleich, was er am Dobsinai-Weg gemacht und für die Pozsonyi-Straße entworfen hatte.
    Gegeben war eine Wohnung im sechsten Stock, in einem ein paar Jahre zuvor errichteten Gebäude, das nach den Gesichtspunkten funktionaler und geometrischer Organisation geplant war, so wie viele ähnliche Gebäude in der Neuleopoldstadt. Doch wenn jemand diese Häuser genauer ins Auge fasste, in ihnen arbeitete oder lebte, musste er merken, dass nicht die an sich bescheidenen individuellen Bedürfnisse den Maßstab für die inneren Proportionen der Gebäude geliefert hatten, nicht der Puritanismus der zeitgenössischen Architektur und eine auf persönlicher Askese beruhende Ästhetik, sondern die Gewinnsucht anspruchsloser, kleinlicher Architekten und Ausstatter, die verschlagen und schamlos die Möglichkeiten eines architektonischen Stils ausnutzten.
    In Wahrheit drückt egoistische Geschäftstüchtigkeit diesem Stadtviertel ihren repressiven Stempel auf.
    Das sich unter den schweren Ruinen seines Zusammenbruchs windende, selbsterfüllt feudale Ungarn, in welchem eine gescheiterte Aristokratie ihre versteinerten Gewohnheiten, Traditionen und ein unerschöpfliches Beleidigtsein von einer Wirtschaftskrise zur nächsten schleppte und mit harter Hand jene strafte, die in den Phantasien von Größe und historischer Sendung Ungarns nicht die einzige Möglichkeit des nationalen Vorankommens sahen, die angesichts des dörflichen Elends und der städtischen Armut von tiefem sozialem Verantwortungsgefühl erfüllt waren, während sie die Regeln und Anforderungen ihres Metiers dennoch den allgemein akzeptierten, alles durchdringenden Gesetzen einer korrupten Gentry anpassten.
    Wenn man auf Schein baut, wird man Unechtheit und Schnörkel nicht so leicht los.
    Es schien in den Grundrissen, in den Wänden auf.
    Madzar brauchte Frau Szemző nicht lange zu erläutern, was er meinte und was ihm verhasst war.
    Alles war ein bisschen niedriger, als gut war, ein bisschen weniger geräumig, weniger luftig, als es für eine bescheidene und ausgeglichene individuelle Lebensführung wünschenswert gewesen wäre. Wieder waren Häuserzeilen so errichtet worden, dass kein Sonnenlicht auf die Gebäude fiel. Aus übersichtlicher Geometrie wurden Steifheit und Gezwungenheit. Nur noch Stil. Die Materialien und Armaturen waren nicht von zuverlässiger Qualität. Von der Struktur ließ sich die als Verschönerung gedachte, aber eigentlich minderwertige Verschalung leicht ablösen. Schon bei der ersten Besichtigung der leeren Wohnung hatte Madzar das deutliche Gefühl gehabt, auf dem Parkett nicht auf beiden Füßen zu stehen, sondern zu schweben. Etwas mit der Struktur stimmte nicht. Die meisten Gebäude in der Neuleopoldstadt hatten etwas Improvisiertes an sich, wie ein Echo der Baracken des Ersten Weltkriegs. Es fehlte die elementare Freude des individuellen, einfühlsamen

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