Parallelgeschichten
Handwerks. Als sagte in seiner Symbolsprache fast jedes Gebäudeteil, ja, es ist Friede, hinter uns liegt der verlorene Krieg, aber das Gewerbe hat sich noch nicht erholt, seine Modernisierung ist unterblieben, und so wird eben minderwertige Ware produziert.
Die Decken und Zwischenwände waren zu dünn. Nicht einmal in den großzügiger bemessenen oder besser gebauten Wohnungen war es angenehm einzutreten, Treppenhäuser und Eingänge waren zu eng geraten, und auch wenn man aus den Wohnungen auf Balkone und Loggien hinaustreten konnte, waren die so zahlreich aufeinandergepfercht, dass sie wie Taubenschläge wirkten.
Die andere Straßenseite war zu nah.
Auch mit ihren Fassaden vermochten sich diese Bauten nicht dem Außenraum zu öffnen, in welchem sie mit ihrem verkrüppelten Inneren standen. Sie schufen sich zu wenig Platz, um von einem Punkt auf sich selbst zu blicken, und so sahen sie auch nicht, dass sie aufeinander keine Rücksicht nahmen.
Sie wollten etwas anderes zeigen, als sie in Wirklichkeit darstellten.
Und bekamen keine Luft.
Sie imitierten Offenheit, sie verbargen ihre Geschlossenheit.
Nach ein paar Stunden in der leeren Wohnung im sechsten Stock merkte Alajos Madzar, dass es keine Zwischenwand, keine Tür und kein Fenster gab, die er mit dem Blick nicht zu verrücken wünschte. Frau Szemző hingegen sah ihre Arbeit so, dass sie zwar die historischen Gegebenheiten nicht verändern konnte, aber zuweilen ein Kunstgriff genügte, die inneren Funktionsvoraussetzungen zu ändern, und dass solche Veränderungen dann stark auf die Umgebung zurückwirkten, zumindest im Prinzip.
Immerhin gab das Madzar zu denken, und er fragte sich, ob es wohl in der Architektur auch einen solchen Kunstgriff gab.
Von den sinnlos gewordenen Leuchtkörpern brannte nachts nur einer.
Im Entree stand ein offener, nachtschwarzer Flügel.
Stand noch genau so da, wie ihn die Transporteure vor mehr als einem Jahrzehnt hingestellt hatten.
Die Verheerungen des Kriegs hatten Spuren hinterlassen, die heute niemand mehr deutete, und auch für die auszuführenden Manöver suchte niemand mehr nach Kunstgriffen.
Wie ein Dieb huschte Gyöngyvér auf der Suche nach dem netten warmen Plaid am Flügel vorbei. Dazu musste sie um den Klavierschemel herumgehen. Man hätte die Klaviertransporteure wieder rufen müssen, damit sie die Rollen des Flügels aus den darunter platzierten Tellern hoben und ihn wenigstens ein kleines Stück beiseiteschoben. Frau Szemző hatte immer wieder vor, sie anzurufen, aber es kam nie dazu.
Von der Straße drang gelbes, von den gegenüberliegenden Dächern bläuliches Licht herein, Gyöngyvér trat wieder zum Klavier, wie eine Nachtwandlerin, der eine Vision vorschwebt.
Die nur noch das sieht, andere Absichten und Gefahren vergessend.
Ihr gesunder, braungebrannter nackter Körper, das gedämpfte Klatschen ihrer nackten Sohlen waren das einzig Wirkliche in dieser Umgebung.
Als sähen sie sich nicht.
Von den fehlenden Gegenständen und von der Geschichte des Hauses und des Viertels wusste sie so gut wie nichts. Zwar hatte Frau Szemző von der Januarnacht, als die Pfeilkreuzler die von Madzar eigenhändig gefertigten Möbel aus dem Fenster geworfen und alle Wasserhähne aufgedreht hatten, ein wenig erzählt, aber das war auch alles. Gyöngyvér tastete nach dem alten Klavierschemel und setzte sich. Die geschichtsgeschwängerte Stille der fremden Wohnung, des fremden Hauses, der ganzen fremden Stadt übermannte sie doch.
In der warmen Frühsommernacht machte sich zwischen den verlassenen Dingen die gespenstische Seele der fehlenden Gegenstände bemerkbar.
Es war ihr zum Weinen, vor Erschöpfung, vor Glück, sie wusste es nicht.
Alles Vorangegangene war in der Nacht steckengeblieben, saß zwischen den kahlen Wänden und den zufällig herumstehenden Möbeln fest.
Den schmerzlich schönen Mann hatte sie vergessen.
Da war ihr Leben, mitsamt allen ihren Vorleben, mit der Erinnerung an ihre früheste Kindheit. Ein Leben, das sie zwischen fremden Wänden, fremden Gerüchen, fremden Gegenständen zubrachte, deren Geschichte sie nicht kennen konnte, oder genauer, die noch vorhandenen Zeichen hatten in ihren Augen keinen geschichtlichen Gehalt.
Auch das Plaid, oder die Decke in ihrem Sprachgebrauch, hatte sie vergessen.
Gyöngyvér war nicht in der Lage, die fremdsprachlichen Bezeichnungen der Dinge richtig zu lernen, sie signalisierten ihren Widerstand wie sinnlose Hindernisse. Aber auch in ihrer eigenen
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