Parallelgeschichten
Luft.
Auf eine solcherart erstarrte Morgenfrühe trafen wir an jenem Tag in der Nähe des Westbahnhofs. Nirgends ein Licht, weder hinter den Fenstern noch über der Fahrbahn, keine Bewegung, kein Geräusch. Es war kalt, neblig, was man eher nur an der Haut und in der Nase spürte. Man sah nichts, hörte nichts. Also sicher nicht da lang. Katzen und Ratten haben vielleicht dieses Gespür. Der Platz war noch weit entfernt, vom dunklen Himmel hoben sich die zerschossenen Türme des Bahnhofs undeutlich ab. Bis hierher waren wir wie eine muntere, lärmige Touristengruppe marschiert. Jetzt war ganz klar, dass man still sein, den Platz in einem weiten Bogen umgehen musste. Man hörte nur noch das Schlurfen auseinanderstrebender Schritte. Es hallte von den Hauswänden wider.
Auch Katzen und Ratten wissen, welche Richtung sie wählen müssen.
Von hier gesehen schien im oberen Abschnitt der Podmaniczky-Straße reine Luft zu sein.
Auch andere bogen da ein, das war die einzige vernünftige Möglichkeit. Wir gingen nicht zusammen, sondern je einzeln. Irgendwie gelange ich dann schon zur Bajcsy-Zsilinszky-Straße, sagte man sich, ohne sich zu fragen, wie denn. Das Bild der Kálmán-Straße schwebte einem vor, wo zu Friedenszeiten Trolleybusse verkehrten, da wollte man hin. Wahrscheinlichkeitsrechnung und Abwägen von Möglichkeiten bezogen sich nur auf den nächsten Schritt. Wie man weiter gelangen würde, war nebensächlich.
Immer nur der nächste Schritt.
Weder vorher noch nachher habe ich je gefühlt, wie tief innen in mir die Stadt lebt. Irgendwelche Umstände schoben mich auf einen Platz, und mein Ort erschien mir wie unter der Lupe. Als wüsste und sähe ich sofort, mit welchen Winkeln, Steinen, Verstecken, mit welchem Schutz und mit welchen Gefahren ich zu rechnen hatte. Wie ein Tier, das die Wege kennt. Jetzt die Kálmán-Straße, und von dort dann weiter, ohne in die Nähe des Parlaments oder des Verteidigungsministeriums zu geraten. Die Alkotmány-Straße war wegen ihrer Breite höchst fragwürdig, und eine noch größere Frage war, wie ich auf die andere Seite der Szent-István-Ringstraße hinübergelangen würde. Aber jetzt war nur die Kálmán-Straße unter der Lupe, und ich fragte mich nicht, was sein würde, wenn ich diesen Weg hinter mich gebracht hätte. Etwas würde sein, oder etwas anderes, oder nichts.
Tagsüber knatterten immer irgendwo die Gewehre, eigentlich von allen Seiten, aus der Nähe, aus der Entfernung. Oder von noch weiter weg. Unmittelbare Gefahr bestand nur, wenn die Schüsse schon in der Straße widerhallten.
Dann war man in der Sackgasse und musste sehen, wie man wieder herauskam. Vorausberechnen ließ sich das nicht.
Während ich dahinmarschierte, fragte mich jemand, was es denn gab. Brot bei Glázner, sagte ich. Die Straße hatte gerade aufgeatmet. Einige Tore standen offen, da war ein Kommen und Gehen, Dinge wurden gebracht oder weggetragen. In den Wohnungen brannte Licht. Das verfärbte Laub an den Bäumen war noch dicht, und wegen der Lichter mutete die Straße an, als wären die Kämpfe vorbei. Straßen, die gerade aufgeatmet haben, sehen immer so aus, aber es war ein hastiges Atmen, niemand konnte wissen, wie lange das Fest dauerte. Wahrscheinlich war es ein Hauswartsjunge, der mich gefragt hatte. Ich dachte das, weil über uns aus einem beleuchteten Fenster eine Frau zu ihm herunterrief.
Macht ihr das Wasser wieder auf, Pistilein?
Er trug eine lange Munitionskiste auf der Schulter.
Hör mal, du Arsch, da kommt man nicht durch, sagte er mit plötzlichem Wohlwollen, ohne der Frau zu antworten.
Siehst du denn nicht, was da los ist.
Natürlich sah ich es und fand seine Verachtung nicht unbegründet. Er schien mich einfach für einen dummen, begriffsstutzigen Zivilisten zu halten. Zu Waffen gelangte man leicht. Ich hätte ihn um jede beliebige bitten können. Mehrmals hatte ich gesehen, wie sie von Lastwagen aus verteilt wurden.
Nicht die Angst hielt mich zurück, und ich kann nicht einmal sagen, ich hätte etwas gegen das Schießen gehabt. Ich hieß es sogar gut. Etwas anderes hätte ich mir gar nicht vorstellen können. So war es richtig. Und wo geschossen wird, da gibt es Tote. Aber mir war aufgegeben, Brot und alles Übrige zu beschaffen, die anderen Familienmitglieder hatten sich in die Hilflosigkeit geflüchtet. Ich fand ihre Angst widerlich.
Wir haben’s schon aufgemacht, küssdiehand. Bitte es ganz ruhig zu probieren, rief Pisti jetzt zum Stockwerk hinauf.
Ich ging
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