Parallelgeschichten
Gerechtigkeitssinn in Mitleidenschaft gezogen. Man mag Vernunft und Gerechtigkeit noch so hoch halten, man widersteht dem Willensdruck so vieler nicht, weder mit dem Rücken noch mit den Beinen. Plötzlich ertappt man sich dabei, dass man selbst Gegendruck macht, denn die meisten Menschen mögen ja gutartig und vernünftig sein, aber niemand entzieht sich dem hinterhältigen Kalkül seines animalischen Egoismus. Wenn einer zu schwach ist, dem Quatschkopf, der ihm auf den Rücken klettert, Widerstand zu leisten, kann er wirklich nichts dafür, nur wird er dann in den Spalt, den die Stärkeren gewinnen, hineingemahlen und weggestrudelt, oder es drücken sich die kleinlichen Kalkulierer, die schlauen Füchse, die Blutegel und Parasiten hinein.
Gewisse Leute warten ja nur auf so etwas. Denn nicht nur die physische, auch die seelische Kraft und die Einsicht werden nicht in gleichen Maßen verteilt. Es gibt solche, die dem Massendruck auf ihren Rücken wacker standhalten, die Kraft dazu haben, aber nur, um die anderen von etwas abzuhalten, das sie für sich selbst erreichen wollen.
Jedermann findet eine Rechtfertigung für diesen Wunsch nach einem kleinen Vorteil. Man steht doch schon zwei Stunden geduldig an. Es ist kalt. Es meldet sich ein dringendes Bedürfnis. Das Kind hat seit zwei Tagen nichts gegessen. Falls man gerade der wäre, der nicht mehr hineingelassen wird, weil der nachgebackene Schub ausgegangen ist, kann man noch einmal eine Stunde warten. Das steht man dann wirklich nicht mehr durch. Was vielleicht sogar stimmt, weil man einen zu hohen Blutdruck hat, oder Krebs, oder Herzprobleme.
Und wenn das Mehl ausgeht.
Oder das Geschäft einen Treffer bekommt.
Oder diese verrückten, bösen Menschen einen niedertrampeln.
Jeder kann ja sehen, dass hier nicht die Vernunft regiert.
Man klammert sich an diese Wahrheiten, möchte aber nur noch, dass einem keine weitere Unbill zustößt.
Ein Gebrülle und Gekreische.
Es geht nicht anders.
Man kreischt, selbst wenn man nicht einmal den Mund öffnet. Es gibt solche, die es schon immer gewusst haben, und jetzt lassen sie ihrem bitteren Wissen freien Lauf. Es gibt solche, die überrascht sind, dass der Mensch so ist, und das schreien sie dann hinaus. Es gibt solche, die staunen, dass der Nachbar, mit dem man vorhin noch freundlich plauderte, ein wildes Tier ist. Solche, die gegen das Schaufenster gepresst werden. Solche, die es aus der Reihe drückt. Solche, die getreten werden, in die Beine, auf die Füße. Es gibt Kinder, es gibt Greise. Solche, die sich herauszwängen wollen, solche, die hineingedrückt werden, es gibt die berufenen Hysteriker und solche, die tatsächlich keine Luft mehr bekommen. Und es gibt viele, die gar nicht glauben können, dass ihnen so etwas zustößt. Die Seele aller kreischt, auch wenn man es nicht mit dem Mund tut, der Körper wird von einem seltsamen Fieber geschüttelt, weil man dem Brüllen und Kreischen anderer nicht widerstehen kann.
Eine dünne Membran ist aufgerissen.
Wahrscheinlich brüllte auch ich, wie alle. In solchen Momenten gibt es nichts mehr als die Gunst des Schicksals, den Zufall, das Glück. Niemand ist mehr für sich oder für die anderen verantwortlich, und wenn er gut über die Runden kommt, könnte er nicht sagen, wem er das zu verdanken hat. Seltsam ist auch, wie rasch sich in der Menge die allgemeine Erregung wieder legt.
Ich weiß nicht, was passierte.
Jedenfalls brach das Schaufenster nicht ein. Die Ersten pressten sich mit ihren über den Kopf erhobenen Broten heraus. Die beim Eingang gestaute, sich drängende Menge ließ eigentlich keinen Weg frei, und doch pressten sie sich heraus.
Man sah nichts als angespannte Schultern, drängende Rücken, in solchen Momenten haben die Menschen keine Gesichter, das Gedächtnis kann sie sich nicht einprägen.
Das alles sah ich.
Ich stand zehn Meter von ihnen entfernt. Und weiß doch nicht, was passierte. Rücken, Schultern, die weißen Flecken anstelle der Gesichter.
Mein Gehör erinnert sich.
Über der am Eingang der Bäckerei gestauten Menschenmasse vibrierte ein Kreischen, wir hingegen, die am Ende der den ganzen Block umwindenden Schlange standen und trotzdem nur zehn Meter von dem Ort entfernt waren, wo das Brot ausgegeben wurde und wo jederzeit eine Katastrophe eintreten konnte, wir brüllten eher. Als hätte man mit Brüllen die Kreischenden an einen Rest von Vernunft erinnern können, oder zumindest an die Möglichkeit von Vernunft.
Tun Sie das
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