Parallelgeschichten
Situationen häufig vor, und es schien niemanden zu stören, dass man schon wieder anderswohin gehen musste. Es war ja sowieso nicht ratsam, sich lange an einem Ort aufzuhalten. Manchmal verlautete offiziell gar nichts, es ging einfach die Nachricht herum, anderswo würde etwas verkauft, etwas Wertvolleres, und eine kleinere Menge machte sich hastig auf, in Richtung einer erneuten Unsicherheit. Niemand beklagte sich. Im Voraus konnte man nichts wissen, auch nicht, wie sicher man dort war, und überhaupt, welche Orte die sicheren waren. Es gab keine Zukunft, jeder hatte nur den gegebenen Augenblick. Man folgte der Notwendigkeit, die einen hetzte und unvermeidlich war, was einem auch Sicherheit verlieh. Manchmal stellte sich heraus, dass man wegen der Straßenkämpfe nicht einmal über Umwege zu einem bestimmten Geschäft gelangte, bei anderen Malen kam man zwar hin, aber da war es schon geschlossen, oder gar nicht erst geöffnet, oder in der Zwischenzeit gerade kaputt geschossen worden.
Aber etwas ergab sich immer. In der Hoffnung darauf erarbeitete sich jeder eine persönliche Strategie.
Wusste, welche Wege man nehmen, welche man meiden musste.
Es war nicht ratsam, sich ganz von der Menge abzusondern, dann hörte man keine Neuigkeiten, aber es war auch nicht ungefährlich, wenn zu viele beieinanderstanden. Man pendelte zwischen sich verdichtenden und auflösenden Gruppen. Auch tagsüber war es nicht leichter als in diesen dunklen, nebligen Morgenfrühen. Die Morgendämmerung dieser Tage hatte schon eine winterliche Schärfe, aber noch mit Herbstgeruch. Es sah aus, als ginge jeder seine eigenen Wege, aber eigentlich beobachtete man ganz genau, wer wohin unterwegs war. Vielleicht wussten ja die anderen etwas. Und in diesem seltsamen Gefühl, das zu Friedenszeiten die Leute einander eher entfremdet, fanden sie sich doch wieder in Gruppen zusammen, was natürlich auch nicht gut war. Denn dann bekam man das Gefühl, dass sowieso niemand etwas Gescheites wusste, bloß Unsinn zusammengetragen wurde, und es also besser war, sich allein aufzumachen. Für kurze Zeit hatte man irgendwelche genaueren Vorstellungen oder wusste zumindest, dass die anderen die ständige Unsicherheit anders einschätzten und Unsinn zusammenredeten. Aber man konnte trotzdem nicht allein entscheiden, ob man zum Beispiel einen Platz überqueren konnte, oder ob man doch besser einen anderen Weg einschlug.
Die gefährlichsten Orte waren nicht einmal die, an denen dauernd geschossen wurde. Wenn die Schüsse eine konstante Höhe hatten, wenn man sah, woher sie kamen und wohin sie ausgerichtet waren, konnte man sich ducken, sich an einen Lattenzaun, an einen umgekippten Straßenbahnwagen drücken, eine Feuerpause abwarten und gekrümmt hinüberrennen, so wie die anderen. Als wären die anderen immer auch da.
Natürlich gab es Querschläger.
Es schien immer schon jemand da gewesen zu sein, der es ausprobiert hatte. Als fast alle schon drüben waren und einer doch erwischt wurde. Und liegen blieb, oder man kroch hin und zerrte ihn aus der Schusslinie.
Und das war dann jemand, den niemand kannte, verwundet oder sofort tot.
Milch fand man in der ganzen Stadt nicht mehr. Die Milchkanne einer Frau erhielt einen Treffer. Das war am Tag, schwaches Sonnenlicht sickerte durch den leichten Herbstnebel. Die Frau rannte aus der Gegenrichtung auf uns zu. Unser Grüppchen wartete den Moment ab, um loszulaufen. Bei solchen Gelegenheiten waren die Gesichter verzerrt, die Münder geöffnet, die Augen zu Schlitzen verengt. So, jetzt, schienen alle gleichzeitig zu sagen. Und dann, auch das hätten wir geschafft. Als die Kanne getroffen wurde, blieb die Frau verblüfft stehen, als könne sie es nicht glauben. Der Ausdruck blieb auf ihrem Gesicht. Die Milch strömte in zwei Strahlen aus der Kanne. Da wussten wir, dass es doch irgendwo noch Milch gab, irgendwo Milch verteilt wurde. Oder verteilt worden war. Die herausfließende Milch, das schien am wichtigsten. Die Frau duckte sich nicht einmal, sondern machte nur eine Kniebeuge und knallte wütend die Kanne auf den Boden. Dreimal, viermal, ohne den Henkel loszulassen. Mehrere brüllten, aber es war zu spät.
Und noch mehr die Stille.
Ein toter Platz, eine stumme Kreuzung, wo sich auf ungute Art nichts regte.
Die geschlossenen Tore, die heruntergelassenen Läden.
Ob Dunkelheit oder Helle, mit dem Geräusch deiner Schritte reißt du die Stille nicht auf. In ihrer Tiefe bereitet sich etwas vor. Etwas liegt in der
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