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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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weiter. Es kam einem nicht in den Sinn, sich von jemandem, mit dem man gerade geredet hatte, zu verabschieden. Bis ich bei der Kreuzung angelangt war, hatte ich von jemand anderem erfahren, die Russen hätten sich zur Basilika zurückgezogen. Sie hätten Kanonen. Aber der Bahnhof befinde sich in der Hand der Aufständischen. Da war also freie Bahn. Nur konnte man nicht wissen, wann es wieder losging.
    An der Ecke war ein großes Fotostudio, vor dem zerschossenen Schaufenster hatte sich die übliche Gruppe zusammengeschart, zwischen den unbekannten auch bekannte Gesichter. Unter unseren Füßen knirschte Glas. Jemand hätte losmarschieren sollen, aber nicht davon redeten sie. Der eine wusste dies, der andere hatte Informationen über jenes, und demnach wäre es also besser so, oder dann eben so. Das endlose Beratschlagen hatte begonnen. Alle redeten, aber es war nicht interessant. Gut war nur, in dieser fremden Gegend bekannte Gesichter zu sehen. Jemanden aus der benachbarten Straße, aus dem eigenen Viertel.
    Die Menschen standen im Dunkeln einander zugewandt, redend, gestikulierend. Andere schwiegen, horchten aufmerksam, und sie waren es, die als Erste die Geduld verloren.
    So geht das nicht.
    Ich musste mir gut überlegen, wem ich folgen, wem ich mich anschließen sollte. Es war so oder so nicht gut, aber vielleicht konnte man doch irgendwo etwas für sich herausschlagen. Jeder wartete auf seine Reihe, nur wollte niemand zuerst an der Reihe sein.
    Über der Straße leuchtete eine einzelne, ziemlich kaputte Lampe. Die Oberleitung des Trolleys war auf ihren Draht gefallen, der Lampenteller weggekippt, das Glas gebrochen, nur der Leuchtkörper selbst war heil geblieben. Zwischen den Haufen herausgerissener Pflastersteine lagen Leichen. An der Ecke zur Kálmán-Straße rauchte auf dem Gehsteig ein ausgebrannter Panzer. Aus der Distanz sah es aus, als ob er dampfte. Vielleicht hatte er den Steinhaufen ausweichen wollen, als er in Brand geriet. War auf den Gehsteig hinaufgefahren, in einen Baum hinein, die Krone war heruntergekracht und brannte mit dem Panzer zusammen. Die verkohlten Äste ragten wie Hörner aus ihm heraus. Von der eingestürzten Bude des Zeitungsverkäufers war eine einzige Wand stehen geblieben. Im Dunkeln fächelte die neblige Luft weiße Blätter. Sonst nichts Lebendiges. Manchmal hoben sie sich ein wenig, diese weißen, vorgestrigen Zeitungsblätter und schlitterten weiter.
    Sogar da sah ich die Frau.
    Aber nur ihre Augen, sie hatte ihren Schal vors Gesicht gehoben. In dieser Morgenfrühe trug sie keinen Hut, sondern einen Turban. Der Kaschmirschal und der Turban hatten die gleiche Farbe und das gleiche Muster. In jenen Tagen fielen derartige feine Sachen nicht auf, auch Persianer und Nerze nicht. Die Leute holten vieles hervor, was sie vorher nicht zu tragen gewagt und versteckt gehalten hatten. Wie für ein endloses Fest, obwohl es gar nicht zum Anlass passte. Den Korb hatte sie sich über den Arm gehängt wie immer, wenn sie nur rasch in den Laden hinunterlief. Und während die anderen sich berieten, sagte sie offenbar hinter dem Schal hervor etwas zu dem neben ihr stehenden Mann, der sie nicht verstand. Dieser Mann trug Reitstiefel, was man vorher auch nie gesehen hätte. Dann machte sich die Frau auf den Weg. Der Mann ging ihr ein paar Schritte nach, unter ihren Schritten knirschten in der Stille Glassplitter und Schutt. Der Mann blieb stehen. Sie kümmerte sich nicht darum, trat auf die Fahrbahn hinaus und ging mit ihrem Korb weiter. Sie lief nicht, beeilte sich nicht, krümmte nicht einmal den Oberkörper.
    Wie jemand, der gerade zum Einkaufen geht.
    Der Mann war mitten auf dem Gehsteig stehengeblieben, was auch nicht gerade vernünftig war. Der Gehsteig an dieser Stelle verlief damals in einem Bogen wie eine Landzunge.
    Da stand er, vor ihm das Meer der Gefahren. Er hätte zurücktreten sollen, oder losmarschieren. Wir beobachteten, was daraus würde.
    Die Frau erreichte ohne Schwierigkeiten den Lichtkreis der Lampe, dort aber kam sie zwischen den Leichen und dem aufgerissenen Pflaster mühsamer voran. Wie zwei tote Rückgrate ragten die Straßenbahnschienen aus der nackten Erde. Die Stadt war voller Gegenstände, die ihren Sinn verloren hatten. Es passierte nichts. Sie trat zwischen die Schienen, wo ihr ein Graben entgegengähnte. Das war gar nicht schlecht, sie konnte dort jederzeit abtauchen. Auch aus der Tiefe des Dunkels war nichts Verdächtiges zu hören. An der Ecke standen wir

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