Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
ein Bein, an der Stelle der fehlenden Glieder wurden Hemdsärmel und Hosenbeine mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt, oder sie schaukelten frei an den Stümpfen. Die Jackettärmel steckten in den Taschen. Holzbeine endeten in Schuhen, Prothesen waren an Stümpfe oder Hüften geschnallt. Und Narben, Nähte, Lücken, Verkrüppelungen, Spuren von Verbrennungen und Erfrierungen, entsetzliche Gesichter. Das alles brauchte nicht erklärt zu werden. Ich konnte nie entscheiden, was schonender war, hinschauen, als sähe man gar nichts, oder mich lieber so rasch wie möglich abwenden. Vielleicht doch eher abwenden.
    Schmachvoll war es in jedem Fall, denn ob ich schaute oder mich abwandte, sie merkten es doch.
    Wussten schon, warum ich mich abwandte oder tat, als sähe ich nichts.
    In unserer Gegend musste man diese hoffnungslose seelische Übung ziemlich oft absolvieren. Teilnahmslosigkeit ist verletzend, aber auch meine Teilnahme brachte nicht viel, denn Befremdung und Ekel waren stärker.
    Höchstens, dass ich es fertigbrachte, mich langsam, ganz langsam abzuwenden.
    Fast jeden Morgen sah ich einen Mann, der nur noch aus dem Rumpf bestand. Er schob sich zwischen den Beinen der Fußgänger auf einem Brett mit Rollen vorwärts. Mein Vater wäre ungefähr gleich alt gewesen, wäre er wenigstens in dieser Form am Leben geblieben. Er rollte aus der Szófia-Straße heraus, bremste mit den Händen, die in dicken Lederhandschuhen steckten. Wenn ich ihn sah, konnte ich nicht anders, ich musste ihn mir als meinen Vater vorstellen. Der Gehsteig vor der Apotheke neigte sich stark. Ich weiß nicht, woher er kam. Zu dieser Stunde hatten es die Menschen eilig. Er sagte immer die gleichen zwei Sätze. Der Angeredete war immer ein Mann.
    Das Rollbrett konnte er zwar unter sich wegsacken lassen, aber auf der anderen Straßenseite musste es ihm jemand wieder unterschieben.
    Er nahm Schwung, und während er sich auf beide Fäuste stützte und anhob, ließ er das Brett unter sich wegrollen und über den Randstein kippen. Mit einem neuerlichen Schwung ließ er seine Schenkelstümpfe wieder aufs Brett fallen, musste aber gleichzeitig mit den behandschuhten Händen stark bremsen, um nicht gleich in die Mitte der Fahrbahn hinauszurollen.
    Was von ihm noch übrig war, war sauber, stark und ordentlich. Vielleicht lag es nicht nur an der rein physischen Anstrengung, dass ihm der Schweiß über Stirn und Hals lief. Das schöne Gesicht schaute aus der Tiefe zu den Fußgängern hinauf, sein langes, dunkelbraunes glattes Haar war aus seiner nassen Stirn nach hinten gedrückt, er bat, man möge ihm auf der anderen Straßenseite wieder auf den Gehsteig hinaufhelfen.
    Immer im gleichen Tonfall.
    Wenn ich auf der anderen Seite um etwas Hilfe bitten darf. Ein unglücklicher Kriegsversehrter dankt im Voraus für Ihre Freundlichkeit.
    Meistens geriet der Angeredete in Verlegenheit, wusste nicht, was er tun sollte, aber der verkrüppelte Mann sagte nichts mehr. Er nahm Schwung, hob sich, ließ sich zurückfallen und bremste, so schnell, dass man, wenn man ihn zum ersten Mal sah, seinen genau bemessenen Bewegungen kaum folgen konnte.
    Während er sich über die Fahrbahn schob, ging ihm der andere ergeben nach. Auf den stark gewölbten Pflastersteinen machten die vier kleinen Metallräder einen höllischen Lärm.
    Ich sah ihn oft und folgte ihm, um zu sehen, wohin er unterwegs war.
    Die Männer wurden von Scham gepackt, von panischer Angst. Und von einer Art kindlichem Eifer. Auf ihren Gesichtern und in ihrer ganzen Haltung der gleiche Ausdruck von Scham. Hätten sie auf ihren zwei gesunden Beinen nicht dem Torso eines Athleten folgen müssen, hätte sich ihr Rücken vielleicht nicht auf diese Art gekrümmt. Das Rollbrett ratterte, knatterte und klapperte über die unebenen Pflastersteine.
    Die Autos hielten an, manchmal auch die Straßenbahn.
    Und wenn er auf der anderen Seite ankam, neigte sich der Torso vor, die beiden behandschuhten Hände stützten sich auf dem Gehsteig ab, die starke Schultermuskulatur spannte sich, und als wäre es eine Übung am Reck, schwang er sich leicht und elegant hinauf und vermochte seinen Rumpf sogar in der Schwebe zu halten.
    In diesem Moment musste man das Rollbrett unter die Stümpfe schieben.
    Das begriffen alle, es brauchte keine Worte dazu, keine Erklärung. Die auf zwei Beinen gehenden Männer hätten aber gern noch etwas getan, das alle ihre Kraft und Geschicklichkeit in Anspruch genommen hätte. Um eine wirkliche, echte Hilfe

Weitere Kostenlose Bücher