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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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nicht.
    Nicht so.
    Und in diesem gegen das Kreischen gestemmten Brüllen war Wut. Die Wut des Eigennutzes und des Egoismus. Wenn da vorn etwas Nichtwiedergutzumachendes geschieht, komme ich nicht zu meinem Brot.
    Auch auf der Straße geriet die Schlange in Bewegung. So weit das Auge reichte. Niemand lehnte sich mehr gegen die Wand, man sprang von den Stühlen und Schemeln auf. Niemand wusste, was los war, man drehte sich hin und her, machte Lärm, wollte vorwärts. Vielleicht war es das Stimmengewirr, das wütende Brüllen und hirnlose Gekreische, die Luft, in der die Strömungen der Ohnmacht und der Hartnäckigkeit aufeinanderprallten.
    Als sich die Ersten mit ihren Broten endlich aus der Menge herausgewürgt hatten und benommen und glücklich dastanden oder sich sofort angstvoll davonmachten, als könnte ihnen jemand das warme Brot entreißen, erreichte das an den Nervensträngen zerrende Geschrei seinen Höhepunkt. Weiter ging es nicht. Lauter war nicht möglich. Alle sahen, wie die da herauskamen, und alle waren darauf aus, ihren Platz zu füllen. Jetzt ließ man wirklich niemanden mehr heraus. Wahrscheinlich fühlt sich die Lava so, wenn sie versucht, die Erdkruste zu durchbrechen. Und so fühlt sich auch die Kruste, die dem Aufgerissenwerden widerstehen möchte und doch aufplatzt.
    Später kann auch der Augenzeuge nur so viel sagen, dass der Druck von innen immer stärker wurde, während der äußere Druck nicht abnahm.
    Von den Broten kam dunstheißer Duft.
    Wem das Schicksal schon so günstig gesinnt war, ihn ein Brot ergattern zu lassen, wollte hinaus. Wer hineinwollte, dessen Schicksal zitterte in der Waagschale. Beim Hineinwollen ging es um Brot. Beim Hinauswollen ging es nicht nur ums heiße Brot, sondern auch ums Leben. Noch war alles im Fluss, aber das Schreien und Brüllen legte sich ein wenig. Die Schlange geriet in Bewegung. Doch das Stimmengebrodel verringerte sich nicht, die erregte Empörung wurde zu einem Dröhnen. Niemand schrie mehr, aber alle fluchten, baten, erklärten.
    Wir hingegen schlurften langsam vor. Man fühlte an den Sohlen, dass es also doch Hoffnung gab.
    Noch da sah ich die Frau. Einmal ihren Turban, einmal den unsicheren Rand ihres verbrannten Gesichts. Die Sonne kam heraus, und wir rückten rasch vor. Das Licht wärmte, man spürte in der Luft den Geruch des nahen Flusses. Er vermengte sich angenehm mit dem Brotduft. Niemand sprach mehr davon, was eben geschehen war oder hätte geschehen können. Eigentlich war nichts geschehen, und wenn wir so rasch vorrückten, musste es doch Brot geben. In ein paar Minuten hatten wir die Ecke zur Fürst-Sándor-Straße erreicht. Die Glücklichen kamen einer nach dem andern heraus. Während es voranging, achtete man auf das kleinste Schlurfen. Die Situation hatte sich gründlich verändert. Jetzt stand man nicht mehr am Ende der Schlange, sondern mittendrin. Man passte auf, dass sich ja keiner einen Vorteil verschaffte, und achtete darauf, in den Augen der anderen nicht den Eindruck zu erwecken, man sei selbst auf einen Vorteil bedacht. Die Reihe rückt vor, bei jedem zittern die feinen Nervenenden, man hat den Stachel in Bereitschaft. Alle streben nach vorn, seien es auch nur anderthalb Zentimeter, und jeder behindert den anderen dabei.
    Als nähme jeder den anderen an den Zügel, während er selbst von den anderen daran gehalten wird.
    Die Selbstsucht wird von den anderen im Zaum gehalten. Wenigstens nicht in eine nachteilige Position geraten, wenn man keinen Vorteil ergattert. Wenn die Reihe vorrückt, bleibt für Diskussionen keine Zeit, und wenn sie stehen bleibt, kann niemand mehr die Lage zu seinem Vorteil nutzen. Nur jetzt. Jetzt muss man sich jene anderthalb Zentimeter erkämpfen. Und zwar so, als würde man nicht von düsterem Egoismus gelenkt, sondern die anderen wären halt einfach langsamer und ungeschickter.
    Bis wir an der Ecke waren, hatte die Reihe schon wieder angehalten. In der engen Straße war es noch dunkel und kalt. Nur von den Dächern rieselte etwas Sonnenlicht. Und auch nur in die kleine Seitenstraße, die die Fürst-Sándor-Straße mit der Pozsonyi-Straße verbindet.
    Auch das ist ein wundersamer Augenblick, wenn die Reihe stehen bleibt. Jeder wird sich bewusst, dass seine ganze Aufmerksamkeit nichts nützte, er steht nicht mehr zwischen denselben Personen und nicht ganz in derselben Position. Sein ganzes Bestreben war doch dahin gegangen, dass sich nichts änderte, und trotzdem hat sich alles verändert. Vertraute

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