Parallelgeschichten
obwohl sie wussten, dass laut Geschichtsschreibung die schicksalsträchtige Schlacht gegen die Türken an einem ganz anderen Ort, am Fuß der Hügel von Majs, stattgefunden hatte. Hätten die Uferschwalben ihre Nester über dem bröckeligen Abgrund nicht so drohend und hartnäckig verteidigt, hätten sie sich in der Hoffnung auf eine große gemeinsame Entdeckung tatsächlich ans Ausgraben gemacht. Sie machten sich Mut, es war schrecklich, menschliche Knochen zu berühren. Madzar reiste jetzt schon zum dritten Mal auf der Carolina nach Hause, und schon die andern beiden Male hatten sie begriffen, dass sie, je mehr sie ihre gemeinsame Vergangenheit in der Erinnerung konservieren wollten, sich umso eher in der gegenseitigen Enttäuschung bestärkten.
Alles hätten sie tun können, jetzt war die Jugend vergangen, nichts ging mehr.
Die Frage war nicht, ob von der früheren Anziehung etwas geblieben war, womit sie die nunmehr historische Distanz überbrücken konnten.
Sie hatten schon alles gründlich durchgesprochen, hatten schon an der Grenze zur Langeweile alle ihre unschuldigeren Erinnerungen heraufbeschworen. Alles Weitere ließen sie rücksichtsvoll auf sich beruhen, und so fanden sie sich immer zwischen den Dingen wieder, von denen sie nicht sprachen.
In tiefster Dunkelheit prallten sie gegen vertraute Gegenstände.
Sie rochen den Geruch des anderen, und als der Kapitän den Architekten an sich riss, spürten sie an der Wölbung des andern harten Körpers die eigene entschiedene physische Zurückweisung. Beide wichen erschrocken vor der Tatsache zurück, dass trotz der eindeutig schwächer funktionierenden Anziehung die Abwehr immer noch so stark war. Als erinnerten sie sich an etwas Früheres. Und schon vor dieser früheren Gegenseitigkeit war da ein gemeinsames Leben gewesen, das sie in gefühlsmäßiger Neutralität nebeneinandergestellt hatte. Madzar war als Kind von Bellardis seltsamem Geruch angeekelt gewesen, aber auch neugierig gemacht worden. Er roch ihn am stärksten, wenn sie aus dem Wasser kamen, vielleicht strömte er aus Bellardis nassem Haar oder seiner auch im Sommer frösteligen Haut. Madzar redete sich ein, dass das eine Eigenheit fürstlicher und herzoglicher Körper war, dass er den Duft der Geschichte rieche.
In solcher Nähe war der Geruch wieder da, zusammen mit dem Ekel und der Neugier. Abgestandener Ohrenschmalz, den man sich mit dem Nagel aus der juckenden Ohrmuschel kratzt, riecht so.
Unterdessen drückte und tätschelte der Kapitän, zwar selbst verlegen, die Gliedmaßen des Architekten.
Die Stärke der Abweisung war ihm eine Genugtuung. Sie ließ ihn spüren, dass er ein Vorrecht hatte. Den Architekten berührte das so peinlich, wie der Kapitän mit diesem Befremdetsein zufrieden war.
Befremdetsein und Ekel, das riefen sie aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit beieinander hervor.
Madzar war seinen eigenen Gefühlen gegenüber weitgehend naiv und geriet selten an die Schwelle seiner sinnlichen Triebe.
Verglichen damit benahm sich der Kapitän völlig ungehemmt, auch wenn er mit keinem Wort, keiner Geste den Sittenkodex der höheren Gesellschaft verletzte, wobei er ihn mit Worten anderer Art in Frage stellte, mit Gesten anderer Art gründlich ins Wanken brachte. Er machte den anderen auf etwas aufmerksam, das er aber nicht im Geringsten zu tun beabsichtigte, was Madzar zwar sah, aber nicht verstand und wofür er auch kein Gespür hatte.
Das heißt, er wusste, dass Bellardi scheinbar alle seine Bedürfnisse befriedigte, aber dabei eigentlich immer etwas anderes wollte. Den großen Strom hinunter, weg von hier, im Mündungsgebiet endlich den Ausgang erblicken.
Er hatte eine Expedition zum Südpol geplant, aber Madzar in diesen Plan nicht eingeweiht, sondern nur die Jungen aus den besseren Familien. Sie machten kürzere Erkundungsreisen, einmal blieben sie auch länger weg. Wer in der Nähe eines großen Flusses aufwächst, kennt die Sehnsucht, seinen leichten Körper der riesigen Kraft der Strömung zu überlassen.
Wie sich später herausstellte, war Bellardi eines Sommers mit serbischen und italienischen Zigarettenschmugglern durchgebrannt. Er hatte ihnen vorgelogen, er sei eine Waise. Man ließ ihn durch Gendarmen nach Mohács zurückbringen. Auf Befehl seines Vaters wurde er ins Stadthaus geleitet, und er musste vor aller Augen in der echolauten Eingangshalle des Gebäudes zwischen zwei bajonettbewehrten Gendarmen stehen, bis ihn der Vater vorführen ließ.
Zittern Sie
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