Parallelgeschichten
kommen würde.
Als er und Bellardi sich einige Wochen zuvor zum ersten Mal wiedergesehen hatten, wäre es ihm in seiner Freude und Überraschung nicht in den Sinn gekommen, die ganze bedrückende Ehegeschichte zur Sprache zu bringen, so wie ihn auch der Kapitän nicht fragte, ob er inzwischen verheiratet sei. Allerdings hatte Madzar gleich gespürt, dass der vertraute Mensch mehr Masken als nötig trug, was er von früher auch schon kannte. Wahrscheinlich fragte Bellardi auch aus egoistischer Vorsicht nicht, er wollte nicht gleich wegen einer unbekannten Frau beißende Eifersucht empfinden. Mit den waagrechten Runzeln an seiner Stirn, den senkrechten Furchen seiner Wangen, den geschwollenen Augensäcken, dem strahlenden, lebhaften Blick und den offenen Zügen erschien Bellardi viel jünger und zugleich viel älter als er war. Eine rücksichtslose Hand hatte in seinem erwachsenen Gesicht die mit gegensätzlicher Bedeutung aufgeladenen Züge getrennt, während Madzar sie früher als Gesamtkonstruktion gekannt hatte.
Auch der hat eine tote Stimmung, wie ich, wie alle. Wie wenn an einer alten Mauer der Salpeter durchschlägt und verrät, wie und woraus sie gebaut ist, oder was sie durch ihre Kapillaren aus dem schlecht isolierten Fundament zu sich heraufholt.
Madzar beobachtete im Spiegel an seinem eigenen Gesicht, was er in die neue Welt mitnehmen würde und ob er an sich selbst ähnliche gefährliche Veränderungen feststellen musste.
Ich würde mich verraten, dachte er, obwohl er nicht hätte sagen können, welches Geheimnis er in Übersee verraten würde.
Das gesellschaftliche Gefälle zwischen ihnen war so groß, dass er schon als Kind nicht einmal heimlich gedacht hatte, Bellardi könnte eines Tages sein Freund sein. Jetzt allerdings wusste er, dass er wahrscheinlich der einzige Mensch war, der es hätte sein können. Vorausgesetzt, dass es unter Männern so etwas gibt. Vielleicht wäre es sogar jetzt noch möglich gewesen. Aus Bellardis Sicht hingegen hatte ihre Beziehung schon in der Kindheit anders funktioniert. Er hatte den Schein zu erwecken versucht, der gesellschaftliche Unterschied sei überbrückbar, und Madzar mehrmals seinen Busenfreund genannt, um den frommen Wunsch jedermann einzutrichtern. Mit dieser schamlosen Aussage hatte er natürlich eher noch seine Stellung unterstrichen. Als stünde ihm aufgrund seiner Abstammung eine solche ungleiche Freundschaft zu, als wäre es geradezu seltsam, wenn er so etwas nicht auch besäße. Einmal deklarierte er sogar, Madzar sei mit Leib und Seele sein Freund. Sie wurden angestarrt wie Idioten. Niemand verstand recht, was Bellardi meinte. Als wäre Madzar ein zu seinem physischen Wohlbehagen bestellter Leibeigener, über den er in jedem Sinn verfügte, vielleicht sogar über seine Seele. Was in den Augen der anderen einer gründlichen Verunglimpfung gleichkam. Madzar wurde eine Weile wie ein Dienstbote der Bellardis behandelt.
Die anderen Jungen mieden Bellardi eher, um nicht unter die Fuchtel der Stadtherren-Familie zu geraten.
Seine geburtsbedingte Privilegiertheit ließ sich zwar nicht in Zweifel ziehen, aber niemand hätte sagen können, worin sie, abgesehen vom zurückhaltenden Umgang mit den anderen, eigentlich bestand.
Bellardi seinerseits hatte von dieser ganzen Komplexität keine Ahnung, und seit damals hatte er nicht mehr das Bedürfnis verspürt, so etwas zu sagen, konnte aber das Vertrauen nicht vergessen, das er Madzar gegenüber empfand.
Madzar war ein schwergewichtiger Mann, seine Seele kompakt, fast bis zur Stumpfheit geheimnislos.
Er blickte dem Kapitän entgegen und versicherte sich, dass der im Grunde ein guter Junge war. Er konnte sich nicht vormachen, dass er ihn nicht auch von seinen weniger vorteilhaften Seiten kannte, was auch der Kapitän wissen musste, selbst wenn er tat, als sei ihm das nicht bewusst; womit er auch sein Bedürfnis nach Schein befriedigte. Aber früher hatten seine peinlicheren Eigenschaften nicht so offen zutage gelegen, waren nicht so tief in seine Züge eingezeichnet gewesen.
Er hatte hellbraune, vertrauensvolle Augen, eine feingeschnittene, wohlproportionierte Nase, schön geformte, volle Lippen, über denen er einen Lustigkeit versprechenden, borstig geschnittenen Schnurrbart trug.
Lieber Freund, schmetterte er schon aus einiger Entfernung, lieber, lieber Kumpel.
Er verbreitete gern eine energiesprühende, lebenspralle Atmosphäre.
Solche übertriebenen Anreden verwendete er, um seinen großzügigen
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