Parallelgeschichten
und mit dem sie viel Rotwein trank, während sie Erna wegen ihrer Kleinlichkeit verachtete. Sie sagte, jüdisch oder nicht, sie schaue nur auf den Charakter. Mein Mann ist Jude, ich werde mir also noch erlauben dürfen, ihre Charakterfehler zu hassen.
Die kenn ich wirklich in- und auswendig.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, es sei wahrscheinlich umgekehrt.
Nämlich dass sie sich für ihre misslungene Ehe an fremden Menschen rächte. Sie suchte in Nínós Charakterfehlern die Rechtfertigung für ihre eigenen ungezügelten Affekte. Wenn ich sie beobachtete, während wir in der Stadt unterwegs waren, konnte ich diese seltsame, mir aus intimster Nähe vertraute Eigenschaft nicht liebgewinnen, obwohl ich ahnte, dass es auch bei meiner Mutter so gewesen war, da ja die beiden laut Nínó genauso symbiotisch gelebt hatten wie Iréns Töchter.
Vielleicht hatte sie mich unbarmherzig verlassen, weil ich von Vaterseite her ebenfalls halb jüdisch bin. Aber warum hatten sie und Irén dann beide einen Juden geheiratet.
Der Anblick unserer einhelligen Begeisterung, wenn wir von einem solchen Einkaufsbummel erhitzt und laut redend zurückkamen und die vielen Pakete im geräumigen Entree fallen ließen, musste auf Nínó wirken wie ein Angriff auf ihre persönlichen Überzeugungen.
Die trübe Flut der Verantwortungslosigkeit schwappte durch ihre sorgsam gepflegte Wohnung.
Sie sagte, ich verstehe wirklich nicht, warum das jetzt nötig war.
Irén antwortete mit geheuchelter Überraschung, aber wie denn, Erna, entschuldige schon, aber ich konnte doch nicht mehr länger mit ansehen, wie unser Lieblingsneffe in solchen zu klein gewordenen Lumpen herumläuft.
Irén war die Einzige, die sie nicht Nínó nannte.
Nínó wurde rot vor Empörung, wie bitte, von was für Lumpen redest du.
Aus dem Jackett hängen seine Handgelenke heraus, aus der Hose seine Knöchel, vielleicht habe ja Erna nicht bemerkt, wie ich in die Höhe geschossen sei, und ob sie sich denn nicht freue, was für ein hübscher Junge plötzlich aus mir geworden sei.
Ágost gebe mir seine besten Sachen weiter, und meine Handgelenke und Knöchel können schon deshalb nicht heraushängen, weil Ágost immer noch größer sei als ich, mindestens um sechs Zentimeter. Außer, ich sei seit Samstagmorgen plötzlich gewachsen.
Irén wurde in solchen Momenten eher bleich, hätte aber um nichts in der Welt die Stimme erhoben.
Sie sagte, sie wolle keine Diskussion, aber Tatsache sei, dass meine Socken nass sind. Schon die zweite Woche, wie sie bemerkt habe.
Ich schlief jeden Samstag bei ihnen.
Das heißt also, dass du ihn seit zwei Wochen in löcherigen Schuhen umherlaufen lässt. Würde an sich nichts machen, es sieht’s ja niemand, aber draußen ist nasser Herbst. Am Sonntag haben wir gar nicht ins Stadtwäldchen gehen können. Und sie sehe nicht ein, warum man darauf hoffen sollte, dass der Winter trocken sein würde.
Dann hätte ich einen bescheidenen Vorschlag.
Ich bitte darum.
Du bist unzufrieden mit mir, wie ich sehe.
Ich kann es nicht leugnen, liebste Erna.
Ich kann dir das Kind ohne weiteres anvertrauen. Wenn du ihn zu dir nimmst, werde ich mich nicht dagegen sperren.
Ich nehme an, dass du in dem Fall seinen entsprechenden Erbanteil mitzugeben wünschst.
Ich verstehe wirklich nicht, was diese heimtückische Anspielung soll. Ich bin ein kranker Mensch, habe schon vieles erlebt und vertrage unbegründete Vorwürfe nicht mehr. Ich möchte dich bitten, diese Aussage zurückzunehmen.
Nein, tu ich nicht, aber wenn du willst, können wir es detaillierter besprechen.
Gewiss, aber vielleicht wäre es richtiger, das bei anderer Gelegenheit zu tun.
Das Kind hat ein Recht zu wissen, wie wir über sein Eigentum denken.
In gewissen Grenzen jedoch.
Warum dürften wir nicht davon reden, was die selige Großmutter verfügt hat.
Deine Tante Irén ist eine charmante Frau, Kristóf, aber ich bitte dich, lass dich nicht irreführen. Was soll denn jetzt, rief sie, diese offene Verdächtigung. Du tadelst mich vor dem Kind. Ich kann mir nicht vorstellen, woher solche falschen Informationen kommen, aber solltest du die Sache forcieren wollen, werde ich wissen, wie ich vorzugehen habe.
Irén spürte wohl selbst, dass sie zu weit gegangen war.
Ich forciere gar nichts, wenn du willst, sage ich, woher ich es habe.
Das wollte Nínó aber nicht.
Sie fürchtete vielleicht, dass ich die Informationsquelle war, was mich selbst erschreckte.
Ich bin nicht neugierig darauf, rief sie.
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