Parallelgeschichten
eine Waise oder ein Ausgebombter war.
Wenigstens wusste man gleich, wer Protektion hatte.
Ich sagte, ich sei eine Waise, um wenigstens hier keine Ausnahme zu sein. Ich konnte ja nicht sagen, meine Mutter hätte mich wegen einer Frau verlassen und meinen Vater hätten seine Genossen aus dem Weg geräumt.
Während ich nach Informationen hin und her lief, bemerkte ich, wie der mir bekannt vorkommende Junge, woher kenne ich den bloß, endlich seinen Koffer nahm.
Der meinem gelben Koffer glich.
Der Junge machte sich ergeben auf, um sich in die vor den Zügen gestaute Menge zu stürzen. Ich sah auch, warum er das tat. Zuerst wollte er nicht, nein, da geh ich nicht durch, nicht durch den Polizeikordon. Nicht freiwillig in die Falle. Dann lieber nicht verreisen. Doch dann beschloss er, es besser gleich hinter sich zu bringen. Niemand hatte ihn begleitet. Da hatte er mich noch nicht bemerkt, und ich verstand auch nicht, was ihm solche Angst machte beziehungsweise warum er sich dann doch entschloss. Es war, als könnte ich an seinem Gesicht, an seiner Körperhaltung jedes meiner Gefühle verfolgen, den Widerwillen, meine Ängste und mein Unbehagen. Vielleicht hatten meine Verwandten diesen Urlaub angeregt, um mich endlich loszuwerden. Ich meinerseits hatte den Verdacht, wieder in einem Internat zu landen, aus dem es kein Zurück gab. Wieder würde mir mein Name genommen, und diesmal bekäme ich an seiner Stelle einen deutschen Namen. Ich verstand nicht, was da gespielt wurde und warum die Erwachsenen so arglos waren.
Oder vielleicht gar nicht arglos, sondern an diesem Schmierenstück beteiligt.
Sie würden uns mitnehmen wie die Türken die eingefangenen Kinder, um sie zu Janitscharen zu machen. Diese Assoziation überraschte mich selbst so, dass ich rasch zu Ágost aufblicken musste, der mich damals kaum mehr überragte, was ich aber immer wieder vergaß. Seit einiger Zeit musste ich alle seine abgelegten Sachen tragen. Sein Blick lief zerstreut über mein Gesicht. Ich wollte ihn rasch fesseln, rasch etwas sagen, um ihm anzusehen, ob da eine Verschwörung war oder ob man uns tatsächlich in den Sommerurlaub brachte, was hieße, dass ich mein dauerndes Unbehagen doch irgendwie unterdrücken müsste. Das Geschrei der Kinder und Begleiter hallte wie irr wider, und eine gleichgültige Frauenstimme wiederholte bestimmt schon seit Stunden die gleichen Sätze.
Die fahrplanmäßigen Züge verkehren ab den äußeren Gleisen. Gleisen. Die Eltern und Angehörigen, hörigen, der an der Urlaubsaktion teilnehmenden Kinder, Kinder werden gebeten, beten, beten, nach der Anmeldung der Kinder, Kinder, den Bahnhof unverzüglich, lich, zu verlassen, lassen. Achtung. Achtung. Die Sonder, Sonderzüge verkehren von Gleis drei, ei, fünf, ünf und sieben. Die fahrplanmäßigen Züge verkehren ab den äußeren Gleisen. Gleisen. Leisen.
Ich dachte heftig nach, woher ich diesen Jungen kannte, und warum er den gleichen gelben Koffer hatte wie ich. Aber es fiel mir nicht ein. Gar nichts fiel mir ein. Mein Koffer war vielleicht etwas abgenutzter, das gelbe Rindsleder ein bisschen stärker nachgedunkelt. Besser gesagt, nicht einmal der Koffer gehörte mir, nichts war in meinem Besitz. Ich hatte nichts und niemanden, und so hatte ich schließlich auch nicht das Gefühl, mich irgendwo losreißen zu müssen.
Wenn sie mich verschleppten, dann sollen sie eben.
Ich sagte zu Ágost, er solle ruhig gehen und mich allein lassen, es bringe nichts, wenn er noch länger bleibe. Er solle lieber das Kühlerwasser wechseln gehen. Ich würde schon zurechtkommen. Das war als großzügige männliche Geste gedacht, aber eigentlich war der mir bekannt vorkommende Junge der Grund. In dem Stimmengewirr verstand mich Ágost nicht, und auch er sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich war ungeduldig, ich wollte dem Jungen nach.
Er brüllte, er wolle mir zum Abschied seine Füllfeder geben.
Das verschlug mir den Atem. Es schien meinen Verdacht zu bestätigen, dass jetzt wirklich der endgültige Abschied bevorstand. Seine teure Füllfeder, er begann auch gleich in der Innentasche seines wunderschönen Sommerjacketts nach ihr zu kramen.
Er trug unsäglich feine Sachen, wie in jenen Jahren vielleicht sonst niemand.
Aber von ihm bekam man nie etwas.
Oder er manövrierte es so, dass die Sachen, die er jemandem kaufte und schenkte, am Ende zu ihm zurückkamen oder mindestens ihm nützten. Ágost war nicht böse, nicht einmal berechnend, eher schwach, ungebremst gierig und
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