Parallelgeschichten
fragte herum, wollte in Erfahrung bringen, was los war, was uns da erwartete. Nur die, die sich zuvor registriert hatten, durften den Kordon passieren, man musste an einem Tisch, wo sich unter Geschrei die Menge staute, seinen Teilnahmeschein abgeben. Daraufhin wurde der Name auf einer Liste gesucht, das Papier hingegen bekam man nicht zurück, sondern eine Zahl, und man hatte sich sofort von den Seinen zu verabschieden.
Die kleineren Kinder mussten von den Schwestern geradezu den Armen ihrer Angehörigen entrissen und mitsamt Gepäck durch den Kordon geschubst werden, wo sie dann größtenteils allein zum Zug stolperten, während man ihnen auf Deutsch nachbrüllte, dorthin, nicht da, der andere Wagen, nicht da lang. Es waren strenge, teilnahmslose Frauen, aber es gab unter ihnen auch sanft lächelnde Diakonissinnen.
Wer nicht Deutsch konnte, verstand in dem von Befehlen durchschallten Wirrwar der Bahnhofshalle gar nichts.
Die Kleinen brüllten, mochten nicht von ihren Angehörigen getrennt werden, hatten keine Lust auf die Sprache dieser anderen, chaotischen Welt. Die Familien winkten, redeten auf sie ein, flehten die Frauen an, die trocken rufend zur Eile antrieben, zur Ruhe mahnten, doch was immer sie auch sagten und erklärten, ihre leere Ordnung blieb in diesem geleerten Bahnhof drohend und unfassbar.
Von den Eisenbahnangestellten konnte man immerhin in Erfahrung bringen, dass die drei langen Züge am Vorabend aus Dresden gekommen waren und bestimmt auch dorthin zurückkehren würden, zur, wie sie sagten, Basis. Dort würde dann bestimmt etwas geschehen, sagten sie, denn normalerweise verkehrten im Inland keine so langen Personenzüge; es würde umrangiert, wir würden auf andere Züge verteilt, einige Waggons würden abgehängt, bevor es weiterging. Die Erwachsenen rannten umher, berieten sich, zeigten sich ihre Papiere, vielleicht entdeckte der andere ein heimliches, aber entschlüsselbares Zeichen oder las etwas Ermutigendes daraus heraus. Die Aufregung war verständlich, jeder musste ein schutzbefohlenes Kind auf die Reise schicken, ohne genau zu wissen, auf wie lange und wohin.
In der Schule, beim Aushändigen der Teilnahmescheine, hatten sie gesagt, alles Weitere auf dem Bahnhof. Die deutschen Schwestern und Diakonissinnen taten aber, als hörten sie die Fragen nicht, oder als verständen sie nicht, was man in dieser dummen fremden Sprache von ihnen wollte. Ein Wohlwollen Kindern gegenüber konnte man höchstens vermuten, zu sehen war es nicht. Die ungarischen Polizisten anzusprechen wagte niemand recht, und wenn doch, zuckten die bloß mit den Schultern, konnten nichts Näheres sagen. Es kamen Waisen und Ausgebombte mit, auch wenn der offizielle Sprachgebrauch nicht einmal mehr die Verwendung dieser unschuldigen Wörter erlaubte, so wie man seit dem März nicht einmal zufällig Revolution sagen durfte. Die Gefängnisse und Internierungslager waren voll. Die Vergeltung war in eine heimtückische Phase getreten, und jeder achtete darauf, sich ja nicht zu verplappern, wenn man schon davongekommen war, dann wenigstens richtig. Wer mit den Polizisten sprach, musste gewissermaßen eine Sprache erfinden und gleichzeitig damit rechnen, sich in den Augen der Umstehenden verdächtig zu machen. Noch immer hatte man Schiss, dass man wegen eines Missverständnisses gelyncht werden könnte, so wie in den letzten Oktobertagen die Geheimpolizisten, oder auch sonst Leute, die vom erregten Mob für solche gehalten wurden.
In den Zeitungen hieß es von der Urlaubsaktion in den Bruderländern, sie betreffe Kinder in unvollständigen Familien beziehungsweise in ungeordneten Wohnverhältnissen. Ein Witz. Es war natürlich klar, welche Ausdrücke sie mit ihren gezwungenen Formulierungen vermieden. Jegliche Andeutung, die Russen hätten Budapest aus der Luft angegriffen und ihre in den Straßen kämpfenden Truppen mit Bombardierungen unterstützt, wurde als feindliche Propaganda und strafbare üble Nachrede qualifiziert. Es hätte ja bedeutet, dass die Russen nicht nur die Aufständischen aus ihren Positionen ausgeräuchert, sondern auch in Verletzung des Kriegsrechts die Zivilbevölkerung nicht verschont hatten. Die hohe Zahl der Toten, Schwerverletzten und zerstörten Wohnungen war schwer zu dementieren, jedenfalls waren die durch Mundpropaganda weitergegebenen Zahlen mit den Dimensionen der Straßenschlachten nicht zu begründen. Schon deswegen durfte man nicht normal reden.
Trotzdem war die erste Frage, ob der andere
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