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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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seine Hormonforschung jederzeit kontrollierbare Versuchspersonen an Orten zu holen, wo er den Probanden nicht nachzulaufen, sie nicht zu überzeugen, nicht zu beruhigen brauchte. Als er einen solchen Ort tatsächlich ausfindig machte, war es ihm schon etwas peinlich, und er sprach lange nicht davon, doch die Ergebnisse rechtfertigten ihn. Was ihn anspornte, sich den Kollegen anzuvertrauen. Seiner Mutter oder seiner Frau hätte er die Sache niemals verraten. Er gab die Idee Adolf Butenandt weiter, der seine an Ratten durchgeführten, höchst erfolgreichen Sterilisierungsexperimente auf menschliche Exemplare zu übertragen wünschte. Die Forscher des Kaiser-Wilhelm-Instituts aßen jeden Mittwoch im neuen Speisesaal zu Mittag, bei welcher Gelegenheit sich Professor Butenandt bei seinen Tischgenossen scherzhaft darüber beklagte, wie umständlich und entwürdigend es sei, die Experimente an Geisteskranken durchführen zu müssen.
    Von der Schuer hörte Claubergs sachliche Antwort stumm und eher betroffen mit.
    Butenandt hingegen fragte gleich mit lebhaftem Interesse nach, war auf jede Einzelheit neugierig, er wollte ja seine Geisteskranken loswerden, die keineswegs lustig oder harmlos waren.
    Dann nahm das Gespräch wegen der allseitigen Verlegenheit doch etwas unsichere Züge an.
    Der Kaffee wurde im großen Salon serviert, und plötzlich suchten sich alle drei andere Gesprächspartner.
    Es war nicht nur punkto Sauberkeit der wissenschaftlichen Datenweitergabe, dass ihnen heftige Zweifel kamen.
    Aber da sie bei ihrer Arbeit dauernd unter Zeitdruck standen, konnten sie es sich nicht leisten, eine solche auf der Hand liegende Idee zu verwerfen. Warum sollte man diese Unglücklichen eigentlich nicht als Probanden ansehen, wo sie doch die Aussonderung ihrem krankhaft asozialen Verhalten zuzuschreiben hatten. Einerseits. Und andererseits hatten ja die Rassengesetze und volkshygienischen Maßnahmen in der ganzen wissenschaftlichen Gemeinde ein großes positives Echo ausgelöst, auch wenn die zahlreichen wissenschaftlichen Hypothesen, auf denen diese Gesetz beruhten, noch nicht völlig verifizierbar waren. Amerikanische, skandinavische und französische Forscher standen mit eigenen erbpathologischen Hypothesen bereit und hätten es gern gesehen, wenn ihre Regierungen dem deutschen Beispiel gefolgt wären und ihre Forschungen von der Ebene wissenschaftlicher Liebhaberei auf die der Staatsräson erhoben hätten.
    Clauberg und Butenandt fürchteten die ausländische Konkurrenz nicht ohne Grund, aber da sie nicht maßlos ehrgeizig waren, wollten sie mit diesem zweifelhaften Vorgehen die Forschung nur etwas rascher vorantreiben. Vielleicht zogen sie nicht genügend in Betracht, dass in der Welt der Wissenschaft vieles parallel läuft und also moralische Skrupel zuweilen von fataler Wirkung auf die Ergebnisse sein können.
    Als Karla von Thum zu Wolkenstein ihrem Chef ganz unerwartet und strahlend die Exponate vorstellte, die sie aus einer in der Gegend von Weimar gelegenen, bis dahin unbekannten Prosektur erhalten hatte, ohne jegliche Aufforderung, wie sie behauptete, was ihr Freiherr von der Schuer selbstverständlich nicht glaubte, ohne Aufforderung gleich mehrere Dutzend Augenpaare, na, wenn das ein Zufall ist, aber es ging ihm auch auf, dass die Baronin mit Hilfe des reichen, ihr weiterhin in Aussicht gestellten Materials binnen kurzem das neue Bestimmungssystem der menschlichen Augenfarbe aufgestellt haben würde, an dem er mangels menschlichen Materials schon seit einem halben Jahrzehnt laborierte, und so beschloss er, die Zeiten der dilettantischen Improvisation ebenfalls hinter sich zu lassen.
    Wozu das heikle Getue.
    Die Sache in die Hand nehmen, anständig organisieren und vor allem die Unterstützung akzeptieren, die Himmler über seinen Hochschulassistenten schon früher einmal angeboten hatte.
    Wegen dummer wissenschaftlicher Maßhaltung hatte er damals nicht gleich zugesagt.
    Wie idiotisch.
    Die unglaubliche Großzügigkeit und wissenschaftliche Reichhaltigkeit des Quellenmaterials überwältigte ihn und hielt ihn lange Zeit schadlos.
    Zum mindesten wurden seine Skrupel beträchtlich abgeschwächt.
    Und kurzfristig wieder verstärkt, als der Pfarrer der Dahlemer St.-Annen-Kirche nach mehreren behördlichen Verwarnungen festgenommen und, wollte man den Gerüchten glauben, im Konzentrationslager von Sachsenhausen interniert wurde. Schließlich war Niemöller sein Seelsorger gewesen, ja, beinahe sein väterlicher

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