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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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ihm nicht schwerfiel, seine Aufmerksamkeit auf parallelen Bahnen laufen zu lassen und sein Denken aufzuteilen. Von der Schuer genoss an der Universität auch deshalb große Achtung, weil er nie etwas Überraschendes sagte, nie öffentlich dachte. Er wusste wohl, dass die Menschen nur die Reden gern hören, die sie schon einmal gehört haben. Und da er sich ungern langweilte, beschäftigte er sich während des Sprechens mit ganz anderen Sachen.
    Nicht das Heilen des Individuums betrachten wir als unsere vornehmliche Aufgabe, sondern die genetische Prävention, erklärte er. Die Pflege des Körpers der Nation, und das heißt Aussonderung und Vernichtung von krankem oder fehlerhaftem Erbgut, wir arbeiten für ein gesundes und rassenmäßig reines Erbgut. In dieser Absicht haben wir das Netz der mit Rassenpflege befassten Ärzte ins Leben gerufen. Man kann nur bedauern, dass die Ungarn in diesem großen Unternehmen nicht mit uns Schritt halten können. Wir als Erste haben die neuesten Erkenntnisse der Rassenbiologie auf die Ebene der Staatsräson gehoben, Sie werden es mir glauben, Gräfin, dass das ein fest fundiertes Gebäude ist.
    Wir haben einen Schlüssel in der Hand, mit dem wir täglich die Tresore der Natur aufschließen können.
    Die Vererbungslehre ist in Gebiete vorgedrungen, in die bisher allenfalls die Götter Einblick hatten.
    Es hatte höchstens organisatorische Gründe, dass wir unser Wissen nicht mit den Ungarn teilen konnten, aus rassischen Gründen sehe ich jedenfalls kein Hindernis. Wir kennen die biologischen Gesetze des Lebens der Nation, und so ist es kein Geheimnis, mit welchen Rassen wir das Erbgut unseres Volkes aufzufrischen gedenken.
    Baronin Karla von Thum zu Wolkenstein verstummte erschrocken, denn nicht einmal ihr eigener auf laut gedrehter innerer Monolog hinderte sie zu hören, welche Richtung ihr Chef eingeschlagen hatte.
    Sie hielt jegliche Behauptung, wonach sie von irgendetwas ein gesichertes Wissen hätten, für lächerlich.
    Aber sie beherrschte sich, äußerte einmal keine Meinung zu dem Thema.
    Ein paar Augenblicke grübelte sie darüber nach, ob von der Schuers neue Vorstellungen ihre römischen Pläne durchkreuzen würden.
    Gesundheit und Krankheit, Begabung und Wahn, oder auch das Auftauchen und spurlose Verschwinden von ganzen Familien, Nationen, Völkern, das alles gehorcht nicht nur dem Einfluss der Umgebung, erklärte von der Schuer der Gräfin, so wie es uns die eingefleischten Individualisten oder die Bolschewiken weismachen wollen, sondern folgt inneren Vererbungsgesetzen, geschlossenen Erbketten, ist, wenn Sie so wollen, Gräfin, gewissermaßen die Folge einzelner Erbgeschichten. Was, einfacher gesagt, bedeutet, dass das Wir die vorherrschende Einheit der Natur ist, nicht das Ich, und jedes Volk, das heute dieses harte Gesetz nicht einsieht, ist morgen am Ende. Das Erbgut bestimmt im Voraus den Modus der Wechselwirkung, die sich zwischen dem Lebewesen und seiner Umgebung ergeben kann und muss. Am einzelnen Leben kann niemand etwas ändern, in der Tat, Gräfin, so müssen Sie das verstehen. Bestenfalls werden Sie diese Eigenheit als Ihre Persönlichkeit ansehen. Oder Sie werden sich aufgrund Ihrer Erziehung als Frau betrachten, obwohl die Hälfte Ihres Erbguts die eines Mannes ist.
    Unwillkürlich blickten sie auf Siegfried.
    Die Gräfin folgte dem Blick des Mannes, der seinen einzigen Sohn zerstreut anschaute, wahrscheinlich ohne ihn zu sehen. Er blieb ein unsicherer Umriss in seinem Blickfeld, ein verwischter blonder Fleck, und dazu das dauernde bittere Gefühl. Was immer er tat, dieser Junge würde die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen. Einen Moment lang sahen sie ihn an, als betrachteten sie ihr gemeinsames Kind, sahen ihn vielleicht gerade deshalb mit solcher Nachsicht an, und darin lag für beide etwas Ergreifendes und Beruhigendes. Aber der kleine Junge bemerkte ihren Blick nicht, er wartete mit engelhaft gesenkten Lidern auf den Tritt seiner Schwester.
    Wenn nicht jetzt, dann gleich, es musste sein, er wollte seiner Schwester den Tritt abtrotzen.
    Oder gerade umgekehrt, die andere Hälfte Ihres Erbguts ist die einer Frau, aber wegen Ihrer Erziehung werden Sie sich als Mann betrachten. Trotzdem ist der Mensch kein hermaphroditischer Mechanismus, ich sage es zu Ihrer Beruhigung, Gräfin, auch wenn er davon nicht weit entfernt ist.
    Ich hoffe Sie nicht zu verwirren, wenn ich frivol behaupte, dass Sie gewissermaßen über eine bisexuelle Potentialität

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