Parallelgeschichten
einmal tritt, kneife ich sie ganz stark.
Der kleine Junge war gefährlich gegen Sieglinde aufgebracht, die nicht wissen konnte, was für bedrohliche Gedanken ihrem mächtigen Vater wegen dieser Frau im Kopf herumgingen. Aber ein wenig spürte sie vielleicht schon, wie gefährlich ihnen das alles werden konnte. Und der Duft der jungen Frau, die ungewohnten Farben und Linien ihrer Kleidung ließen sie für eine weite, vornehme große Welt, von der sie nichts wusste, seltsam empfänglich werden.
Sie alle konnten nicht wissen, dass sich für sie der Lauf der Welt gerade in diesem Augenblick veränderte, dass sich die gewohnte Zeitrechnung verschob.
Obwohl ihr mächtiger, wunderbarer Vater scheinbar nichts anderes tat, als vor der fremden hohen Frau seine Wissenschaft darzulegen, sie in seine wissenschaftlichen Pläne einzuweihen. Eigentlich hätte er selbst nicht sagen können, ob er mit dem oft heruntergeleierten banalen Text seine sexuelle Erregtheit, die ihn körperlich und seelisch hernahm, verhüllen wollte, oder ob er umgekehrt seinen Gefühlen einen so freien Lauf ließ, der Frau so heftig den Hof machte, um sie im Netz seiner wissenschaftlichen Pläne zu ködern und sich später ihren Einfluss nutzbar zu machen. So plötzlich verstand er selbst nicht, wie sein Denken und seine Urteilskraft mitten in der Darlegung seiner wissenschaftlichen Konzepte einen solchen Sprung hatten machen können. Wann und wie war er zu diesem heiklen autobiographischen Thema übergegangen, von dem er eigentlich nicht sprechen durfte, was hatte ihn abgelenkt. Zwanzig Jahre lang hatte er mit niemandem darüber gesprochen, als er dem frischernannten Staatsbeamten der Republik Rechenschaft über die Ereignisse hatte ablegen sollen, hatte er unverschämt gelogen, nicht weil er lügen musste, er log erhobenen Hauptes, weil es die Kameradschaft so verlangte.
Als zeige er sich nackt vor der jungen Frau, mitsamt der moralischen Altlast seines Lebens. Er wollte etwas Wichtiges von ihr, auch wenn er nicht hätte sagen können, was wertvoller sein könnte als sein guter Ruf und seine Arbeit. Er war ihretwegen um zwanzig Jahre zurückgerutscht, hatte sich in seiner Lebensgeschichte verirrt, und trotz aller seiner Macht, seines Ansehens und Wissens wusste er in diesem Augenblick nicht, wer das wäre, der ein neues Leben anfangen würde.
Wie, in welchem inneren System formuliert man die Sätze, er wusste es nicht.
Wen sah diese junge Frau in ihm, sie müsste ihn ja zutiefst verachten, wenn sie wüsste, wen sie vor sich hat.
Zuerst redet man, erst danach sieht man, was man hat sagen wollen.
Das ist aber nur das Werk eines Augenblicks, nicht mehr als ein Rutschen, ein falscher Tritt.
Ich wäre einer solchen Frau nicht wert, dachte er und betrachtete ihre unschuldigen, zerbrechlichen Glieder, aber eigentlich dachte er nur, dass er vor ihr Angst hatte.
Dann weiß man aber nicht, wer bisher aus einem herausgeredet hat, oder wer es ist, der unnennbare Pläne im Voraus durchschaut.
Dass von dem, was er bisher erzählt hatte, kein Wort stimmte, sagte er nicht laut, es stimmte ja ziemlich vieles, aber die Versuchung war groß, damit herauszuplatzen, nur tut man so etwas dann doch nicht, es bleibt beim Wunsch.
Bitte seien Sie mir gegenüber nicht so gutgläubig, hätte er die Frau warnen wollen.
Diesen Effekt versagte er sich, und dadurch sah er klarer. Ihr Respekt ist mir sehr angenehm, auch wenn ich weiß, dass Sie mir damit schmeicheln wollen, Sie kennen ja weder meine Arbeit noch meine Leistungen, trotzdem akzeptiere ich Ihre Schmeichelei, weil ich geschmolzen bin, ich schmelze vor Ihnen dahin. Sie sollten aber keinen Augenblick vergessen, was für eine lächerliche Gestalt ich bin, auch in meinen eigenen Augen. Ein Schwindler bin ich nicht, das brauchen Sie nicht zu befürchten, ich bin ein geschickter Wissenschaftsbeamter, was ja auch schon etwas ist. Bedeutende wissenschaftliche Resultate habe ich nicht vorzuweisen, auch wenn ich dauernd damit liebäugle. Er tat sich selber leid. Vielleicht gelingt es mir noch, etwas zu erreichen. Diese Frau muss Königin werden, wer sollte sie denn daran hindern.
Und nicht mit einem Niemand durchbrennen, wie ich einer bin.
Nach einer Weile gelang es ihm aber, sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden, und um es zu wahren, sprach er mit großer Übung und gleichmäßig weiter. Von lauter Dingen, von denen er schon hundertmal gesprochen hatte, allenfalls modelte er die Intonation um. Schlug die
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