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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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eine Nummer in der Achselhöhle, deshalb hatte er beschlossen, was immer auch geschehen mochte, jetzt erst einmal lieber allein zu bleiben.
    Der Religionslehrer, der an diesem Morgen den pensionierten Bankdirektor auf dem Turm abgelöst hatte, rief hinunter, da sei nichts Besonderes, keine Angst, aber es kämen welche, so formulierte er es, wahrscheinlich von draußen. Obwohl auch er wusste, dass dort kein Mensch mehr war. Etwa sechsundzwanzig, er habe gezählt, rief er. Das Merkwürdigste war, dass sie fast in geschlossener Formation kamen, wie früher, als sie zur Arbeit getrieben wurden.
    In geschlossener Formation, sechsundzwanzig Mann, rief er noch einmal.
    Von unten konnte man den Religionslehrer zwischen den Balken des geborstenen Turms nicht sehen, er hingegen sah sie von oben, die ihm zugewandten, kleinen weißen Gesichter über dem dunkel glänzenden Pflaster. Auch dass sie zitterten, sah er, und so schaute er doch lieber rasch durchs Fernrohr. Er selbst war es, der zitterte. Er sah, dass es doch Stunk geben würde. Die hielten etwas in den Händen, Stöcke, Latten.
    Als sie die ersten Häuser erreichten, gingen sie hinein.
    Wer hätte das gedacht. Also hatte die Wachmannschaft im Lager doch nicht nur Leichen zurückgelassen, wie es abgemacht war, sondern auch Lebende.
    Los, rief er hinunter.
    Aber die unten auf dem Platz verstanden nicht, wohin denn, sie warteten auf genauere Anweisungen von oben. Die dort draußen drangen jetzt schon ins zweite Haus ein, aber der Religionslehrer war zu erstarrt, um Genaueres zu sagen. Das heißt, er musste lange Augenblicke daran denken, dass das Schicksal des Nordwalls und seiner Bewohner von ihm allein abhing. Ja, das würde Stunk geben. Hätte er gleich hinuntergerufen, wären dort ein paar vielleicht davongekommen, aber er schwieg, und darum mussten alle sterben.
    In Dreierreihen kamen sie dahermarschiert, und auch beim dritten Haus würden sie zu dritt ausscheren und hineingehen.
    Getrunken hatten sie schon, vom Wasser der Niers, essen wollten sie, warme Kleider wollten sie, Geld wollten sie, und Rache.
    Erst nachdem ihnen der Religionslehrer hysterisch schreiend zu verstehen gegeben hatte, was sie tun sollten, und da sprangen schon Leute aus den Fenstern der ersten Häuser, machten sie sich eilig zum Nordwall auf. Die Häuser brannten schon, als sie außer Atem dort ankamen, ein paar Bewohner waren zwar noch im letzten Augenblick entkommen, andere warteten zusammengeschlagen und schreckensstarr auf den Feuertod. Da kannten sie kein Erbarmen mehr. Es gab solche, denen schlugen sie den Milchbecher vom Mund, es gab solche, die rissen sie von den Regalen der Speisekammer herunter, mitsamt dem erbeuteten Einmachglas in der Hand, es gab Häftlinge, die sie aus dem Kleiderschrank zerrten, zwischen ängstlich gehüteten Pelzen und Zwiebacken hervor, oder sie erwischten sie auf der Flucht, unter Zäunen, zwischen Hecken.
    Mit Schaufeln und Spaten erschlugen sie sie, mit Gabeln durchbohrten sie ihnen das Herz, allen fünfundzwanzig, damit sie ganz sicher nicht wiederauferstehen konnten, auch wenn mehr als einer zähen Widerstand leistete. Übermacht oder nicht, von den Städtern blieben verschiedene schwerverletzt liegen. Dem Sechsundzwanzigsten war es gelungen abzuhauen. Man fand ihn nicht, oder der Religionslehrer auf dem Turm hatte sich verzählt. Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihre Verletzten zu versorgen, beim Löschen der brennenden Häuser zu helfen und sich einigermaßen zu beruhigen. Noch im Fieberrausch des Mordens packten sie die frischen Leichen auf Handwagen, Leiterwagen, Mistkarren, Schubkarren, stolz, dass es so viele waren und dass sie das gemacht hatten. Die Leichen troffen von Blut, waren schlüpfrig von Mark, viel Verstümmelung, viele Ohren, viele Nasen, sie sammelten zusammen, was sie fanden, zogen und schoben die Last zu den brennenden Gräben hinaus, um vor dem Einbruch der Dunkelheit fertig zu sein. Die waren weit weg, diese elenden Gräben, und schon so hatte man genug Zeit verloren.
    Es war Nachmittag, als sie das Lager endlich erreichten.Unerfindlich, ob Menschen oder Tiere die auf den leeren Wegen liegenden Leichen so brutal zugerichtet hatten.
    Die Frage beschäftigte niemanden ernstlich. Um ehrlich zu sein.
    Die da sollten so bald wie möglich brennen, das war wichtig, damit man die Gräben zuschütten und anständig darüberpflügen konnte.
    Der Einzige, der entkommen war, wurde in der Gegend von Venlo zwischen den Gewächshäusern des

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