Parallelgeschichten
Sankt-Thomas-Klosters von einer englischen Patrouille aufgegriffen, und in diesem Moment erzählte er ihnen bereits die Geschichte seiner Flucht, während man ihm lauwarme, süße Dosenmilch zu trinken gab und ihm eine Decke um die Schultern legte. Trotzdem zitterte er am ganzen Leib.
Nur schön langsam, winkte der englische Offizier, da ist noch genug. Reicht auch für morgen. Trink in kleinen Schlucken. Kriegst dann noch mehr, aber zuerst wollen wir dich baden, dich in ein schönes warmes Bett legen. Und ich will gleich jemanden holen, der deine Sprache spricht.
Also nicht ihn hatte er bisher gesehen, sondern seinen Zwilling.
Er brüllte im Traum richtig auf, also hatte er doch einen Zwilling, einen Bruder.
Er hatte sie verwechselt, genau.
Der andere Junge hatte sich zum Glück getäuscht. Sein Zwillingsbruder war nicht verbrannt, wenn er doch hier und am Leben war. Diese alles in Ordnung bringende Erkenntnis verlieh ihm ein unermessliches, unergründliches Glücksgefühl, er wusste zwar, dass er träumte, und doch war er gerettet, wenigstens im Traum lebten beide noch.
Wie alt bist du, fragte einer der Mönche neugierig.
Er dachte nach, konnte es aber nicht sagen, so unerwartet kam die Frage.
Quäle ihn nicht, sagte ein anderer Mönch. Älter als fünfzehn ist der nicht.
Oder er kann nicht aus dem Traum heraus sprechen und es sagen.
Meines Erachtens ist er etwas älter.
Komisch, dass er ganz einfache Dinge offenbar nicht versteht.
Vom Großvater hatte Döhring gelernt, dass sich das Böse verkleidet und niemals schläft. Falls es eventuell doch einmal ruht, lässt ein vorsichtiger Mensch Beil, Axt, Messer, Sichel und Sense trotzdem nicht unbeaufsichtigt.
Als der Holzkorb voll war, legte er das Beil gewohnheitsmäßig zwischen die frisch gespaltenen Scheite, hob ihn unter den Arm, um ihn hinauszutragen. Die Schuppentür stieß er mit dem Knie auf. Nichts Fatales geschah. Der mit dem spitzen Eichenholzpfahl lauernde Junge wurde von der aufgestoßenen Tür nicht nur verdeckt, womit er nicht gerechnet hatte, sondern sie schlug ihm auch fast gegen die Stirn.
Döhring blickte gar nicht zurück, da die Tür auf eine Federung ging und von selbst hinter ihm ins Schloss fiel.
Nichts ahnend marschierte er mit dem Korb unterm Arm auf das Haus zu.
Der andere Junge lief ihm nicht gleich nach, das ist doch der Deutsche, dachte er, kein Irrtum möglich. Oder jemand, der ihm ähnelte oder doch er, auch wenn der bis in die letzten Wochen mit den Häftlingen keinen Kontakt gehabt hatte.
Dann aber hatte er ihnen die Zähne gezeigt.
Er lief los, als die vertraute Gestalt schon fast bei der offenen Haustür angelangt war.
Und geradewegs auf die beiden anderen stieß, die vom oberen Stock herunterkamen.
Sie hatten im Haus niemanden angetroffen und waren beruhigt, aber auch erregt von der Stille dadrin und von allen den vielen Möglichkeiten. Den Mund und die Hände hatten sie voller gedörrter Äpfel und Pflaumen, auch ihre Taschen waren vollgestopft. Oben in den eiskalten Schlafzimmern standen säcke- und körbevoll davon, sie fraßen und kauten.
Na guck mal, da ist ja das Vögelchen, rief der eine mit vollem Mund in einer unverständlichen Sprache.
Das hätte der nicht gedacht, dass er uns hier trifft, sagte der andere auf Deutsch beziehungsweise in der Sprache, die im Lager von Niersbroek gesprochen wurde und die noch am ehesten dem Deutschen glich.
Zwei Häftlinge, die lebten, Döhring war nicht nur zu Tode erschrocken, sondern wollte sich auch gerade umdrehen, hinter seinem Rücken hatte er Schritte gehört, oder noch eher gespürt, als ihn schon ein schwerer Schlag auf den Kopf traf. Ein dunkles Blitzen, das sich in Funken verspritzte. Das erleichterte ihn, aber als ihn der nächste Schlag traf, begriff er nicht, was geschah. Er spürte den Holzkorb nicht mehr in seinem Arm, sah aber ganz aus der Nähe die lachenden Gesichter der beiden unbekannten Gestalten, es kam ihm fast selbst das Lachen.
Bevor ihn der nächste Schlag in völliges Dunkel tauchte, war ein Gefühl von Leichtigkeit das Letzte, das er empfand, dass die Last des Lebens ihm abgenommen wurde.
Dieses eine Mal hätte er sein Beil doch besser im Schuppen gelassen, das war der letzte vernünftige Gedanke, dann erlosch das Funkenlicht langsam. Jetzt war es nicht mehr nötig, irgendetwas zu denken, er war ja tot, auch wenn er noch lebte und dachte. Zwischen den verstreuten Holzscheiten zu Boden gestreckt, schien er sich aus seinem Tod hochrappeln
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