Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
abends der Nebel nieder. Aus dem Moos ließ sich etwas Feuchtigkeit saugen, oder von den Ästen lecken, aber Trinkwasser war es nicht. Sie spürten voraus, wie sich unter dem Biss die Feuchtigkeit süß über ihre Zunge verströmen würde.
    Die Stromversorgung war nicht unterbrochen, niemand kam lebend durch die Tore und Zäune.
    Innerhalb dieser Zeit, in solcher Kälte, trocknet Fleisch nicht ein, auch er überlegte sich das.
    Es gab da einen Jungen, vielleicht etwas älter als er, der an einer Barackenwand kauernd sich den Kopf zerbrach, wie man den Stromkreis im Zaun kappen, womit man einen Kurzschluss verursachen könnte. Jenseits des geladenen Stacheldrahtzauns floss in ihrem sandigen Bett träge und sauber gesiebt die Niers. Er bewunderte diesen Jungen, fühlte in der Herzgegend eine große Wärme für ihn, als sie die Sache aufgeregt besprachen, aber er wusste nicht, woher er ihn kannte. Er betrachtete ihn von weiter weg, von näher, wagte aber nicht, ihn danach zu fragen, er fürchtete, er könnte sich täuschen, und dann würde sich herausstellen, dass er Opfer einer entsetzlichen Gefühlsverwirrung war.
    Vielleicht sollten sie einen der Zaunpfähle ausgraben, und der würde dann mit seinem Gewicht die elektrischen Leitungen mitreißen.
    Während sie miteinander redeten, meinte er ganz aus der Nähe zwischen den grasbewachsenen Ufern das Glucksen des Wassers zu hören.
    Bloß brauchte es auch dafür einen Spaten, eine Schaufel, irgendwas.
    Dann eben mit den bloßen Händen.
    Aber es ließ ihm doch keine Ruhe.
    Nicht ihn, vielleicht gar nicht ihn, sondern seinen Zwillingsbruder kenne er, der dort mit den anderen verbrenne, antwortete der Junge auf seine Frage, aber der hätte sowieso nicht überlebt. Der hatte seit Wochen die Wassersucht, aber Wasser lassen konnte er nicht mehr, oder wenn doch, stell dir das mal vor, pisste er Blut.
    Sie sollten aufstehen und etwas suchen. Damit, dass sie hier herumsaßen und Pläne schmiedeten, kamen sie nirgendhin.
    In der nächsten Nacht träumte er, wie es weiterging. Alles war immer noch gleich. Da, das dunstige Grau, und obwohl er wusste, dass er träumte, ließ sein Bewusstsein durch den sich verbreitenden Rauch den klebrigen Geruch von brennendem Fleisch hindurch, erbarmungslos, das süße glucksende Plätschern der nahebei fließenden Niers blieb seine einzige Hoffnung.
    Auch er staunte, dass der ihm bekannt vorkommende Junge, der leider nicht sein Zwillingsbruder war, es inzwischen offensichtlich geschafft hatte, einen Kurzschluss zu verursachen, denn auf dem langen, vom Gebrauch glänzenden Nussbaumtisch im eiskalten Ratssaal von Pfeilen brannte eine einzelne Kirchenkerze. Wenn jemand etwas heftiger redete, hallte jedes Wort vom dunklen Ziegelgewölbe wider.
    Alles vertraute Dinge.
    An den Widerhall waren die Räte seit Jahrhunderten gewöhnt, bei ihren Reden kalkulierten sie ihn sogar ein, doch dieses eine Mal gab es keinen, der seine eigenen Worte vervielfacht und verstärkt noch einmal zu hören wünschte. Besser leise, so leise wie möglich, es konnte aber nicht leise genug sein, das Unvermeidliche kam lauter als nötig heraus.
    Die brennenden Gräben mussten erstickt, zugeschüttet werden. Die zurückgelassenen Toten musste man begraben.
    Aber nichts geschah so, wie sie es leiser als leise besprochen hatten und wie es vom Schreiber in knappen Formulierungen festgehalten worden war.
    Früh am nächsten Morgen versammelte sich etwa ein halbes Hundert Leute auf dem Rathausplatz. Außer dem Schreiber und den vier zur älteren Generation gehörenden Räten waren kaum erwachsene Männer dabei.
    Zur gleichen Zeit erschienen am Rand der Niersbroeker Apfelpflanzung drei linkische Gestalten, ihre Köpfe schwankten auf langen, nackten Hälsen.
    Er wusste, dass es Ungarn waren, so wie ihre drei vergessenen Fahrräder.
    Die hellen Streifen an ihren Kleidern und Mützen blitzten zwischen den niedrigen, feuchten, samtig bemoosten Stämmen auf. Sie sahen erbärmlich aus, nicht so, wie später in den Filmen, und das war ihnen bewusst. Bei der geringsten Bewegung strömte Gestank aus ihren Körpern, ihren Mündern, ihren Lumpen, sie mussten es wahrnehmen. Das friedliche Winterende wirkte unwahrscheinlich, die Düfte, der Wald, die Bäume, und dass sich hier in der Außenwelt inzwischen offensichtlich nichts verändert hatte. Einer von ihnen blieb hinter einem Baum stehen, um zu pissen, dieser ihm irgendwoher vertraute Junge oder sein am Leben gebliebener Zwillingsbruder lehnte

Weitere Kostenlose Bücher