Parallelgeschichten
ausgelassen. Bestimmte Jungen, seine Lieblinge, untersuchte er vielleicht lieber, während er sich mit anderen überhaupt nicht abgab. Oder nur gezwungenermaßen. Zuweilen war es noch beklemmender, wenn man für Schultze gar nicht mehr in Betracht kam. Auf längere Sicht hielt man das nicht aus, es war wie verliebte Eifersucht. Was die anderen wiederum eifersüchtig oder verächtlich beobachteten. Es war nicht klar, was der Ausschluss bedeutete. Warum war Schultze gerade auf ihre Maße nicht neugierig. Warum wären sie anders als die anderen, mit bloßem Auge sah man ja nichts, vielleicht wegen der Kleidung nicht.
Diese um böse Affekte verschärfte Aufmerksamkeit machte die Stimmung zwischen ihnen so bedrückend und heillos, dass sie es einander gar nicht verzeihen konnten.
Wenn doch Gleichheit herrschen soll, dann soll sie auch herrschen.
Es gab aber einen höheren Gesichtspunkt, der weder von den ausgewählten Personen noch von den zu messenden Körperteilen abhing und nicht einsehbar war. Je größer und detaillierter die Datenmenge wurde, umso klarer sah Schultze, dass in der organischen Natur das Prinzip der Kraft oder der Energie, der Liebe oder der Gleichheit nicht funktionierte, ja, dass sogar die beglaubigte Messmethode, wie er sie für die Beurteilung des Einzelfalls anwandte, in die Irre führte. Es gibt nur den Ausnahmefall, das Einzelne hat seine eigenen Gesetze, innere, von außen nicht fassbare Gesetze, aber es sind nicht die Ausnahmeeigenschaften, mit denen das Einzelne ins Gesamt eingebunden ist.
Kraft, Energie, Liebe oder Gleichheit sind letztlich politische Fiktionen, die ihrerseits in der Fiktion des statistischen Durchschnitts gründen, und sie haben weder mit Physik noch mit Biologie etwas zu tun.
Zuerst müssten, das schien er sagen zu wollen, diese Wissenschaften von den politischen Fiktionen gereinigt werden, oder man müsste sich zuerst mit metaphysischen Fragen beschäftigen, erst dann würde man mit diesen mechanischen Messergebnissen etwas anfangen können.
Oder nicht einmal dann.
Abends saß Schultze auf einem der bequemen Lehnstühle in einem Winkel des Rittersaals im ersten Stock und sang vor sich hin. Immer allein, in seinen Gedanken versunken, sogar wenn andere Erzieher um ihn herum lasen oder plauderten. Schultze rang mit der metaphysischen Verankerung der sogenannten letzten Fragen. Und merkte es gar nicht, wenn die Grammophonplatte abgelaufen war und unter der Nadel leer knisterte und kratzte. Er hatte sich ausgeredet, in der intuitiv zusammengetragenen Datenmenge Zusammenhänge, Beziehungen, Kontraste oder Parallelen suchen zu wollen.
Lieber pfiff er klassische Melodien und wiederholte für sich manisch immer das Gleiche.
Dazu trank er ziemlich viel Rotwein.
Nach Abschluss der Arbeit musste er jeweils auf Professor Geipel aus Berlin warten, den berühmten Experten für Handflächen- und Finger-Erbforschung, der nicht immer allein kam, sondern mit Gästen aus der Wissenschaft. Geipel fungierte als wissenschaftlicher Supervisor der Experimente und war bei den Jungen im Gegensatz zu Schultze wegen seiner scherzhaften Art beliebt.
Diesen peinlichen und beklemmenden Akt, die Supervision, konnten sie in Rhythmus und Bedeutung besser nachvollziehen als die ewigen Untersuchungen. Supervision wurde mindestens dreimal jährlich durchgeführt. Dabei stellte sich heraus, wer von ihnen als wirklich interessanter oder fragwürdiger Fall galt. Was sie im Prinzip schon vorher hätten merken müssen, sie folgten ja unwillkürlich den heimlichen Hinweisen, wie sie die Messtechnik lieferte, hatten sie sich angeeignet, nur konnten sie nicht wissen, wie relevant sie waren.
Sie fuhren fort, an sich und aneinander zu beobachten, was Schultze einmal gemessen hatte, womit sie die Beobachtung an einen Punkt führten, zu dem Schultze mit seinen exakten Messungen nicht vordringen konnte. Jeder kannte die Messdaten des anderen, wusste, was er verschwieg und was man selbst zur Vermeidung von Vergleichen besser verheimlichte.
Gesichtszüge, Glieder und Hautfärbung, die Art und die Veränderungen der physischen Tendenzen wurden scharf beobachtet.
Das alles fand seine Krönung, wenn die Supervision kam.
Von Schultzes mönchischer Strenge waren sie befremdet und angeekelt.
Ich habe es doch gesagt, es gesehen, siehst du, ich habe es ja gewusst.
Aber sie genossen ihre subtile Detailkenntnis.
Sie waren unwillkürlich auf die wissenschaftlichen Prämissen eingestimmt, mit denen sich Schultze so
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