Parallelgeschichten
eingehend beschäftigte, aber da sie sich nicht um Wissenschaftlichkeit zu bemühen brauchten, konnten sie ihre Beobachtungen ruhig mit Gefühlen und Regungen verknüpfen, was nicht ungefährlich war. Denn sie brachten einfach nicht heraus, was für Konsequenzen die Ausnahme oder das Fragwürdige, alles dieses Individuelle, haben würde, und nur das hätte ihr Wissen abgerundet. Dass es schlimme, schwerwiegende Konsequenzen sein würden, darüber konnte kein Zweifel bestehen. Ob das Fragwürdige bestimmte Messkriterien hatte, wussten sie auch nicht. Hendrik und Hans fanden auch dazu keine Unterlagen, als sie in zwei aufeinanderfolgenden Nächten in die Ordination eindrangen. Manchmal schien es, als hielte die Kommission die Ausnahme für die Regel, bei anderen Malen eher das Durchschnittliche oder auch das Erwünschte, was als Ziffer oder Ziffernserie hätte aufscheinen müssen, aber auch die fanden sie nicht.
Sie hatten herausbekommen, dass die fragliche Ziffer eine Zahl war, mit x bezeichnet, so wie es im Periodensystem der Elemente ebenfalls leere Stellen gibt. Leerstellen werden dank der ausgefüllten Stellen sichtbar, und so war es nicht unbegründet, diesen nachzuforschen. An Jungen, die als fragwürdige Fälle galten, wurden die Messungen nicht nur unbarmherzig wiederholt, sondern im schweigenden Beisein der Kommission wurden noch besondere Messungen vorgenommen. Für die Messungen mussten sie sich splitternackt ausziehen, und das nicht nur vor der Kommission, sondern auch, wenn Schultze lediglich die Distanz zwischen ihrem Kinn, dem Gnathion, und dem oberen Rand des Brustbeins, dem Suprasternale, maß.
Er verlangte es immer, wenn man es nicht sowieso schon freiwillig getan hatte.
Kienast galt als schwerer Fall.
Jetzt ziehen wir schon die dreckige Unterhose aus, sang Schultze, werfen die stinkenden Socken ab.
Im Internat wurde die Unterwäsche einmal in der Woche gewechselt, die notwendig auftretenden körperlichen Ausdünstungen widerten Schultze besonders an. Er verzieh ihnen kaum, dass ihr organisches Funktionieren an den Messdaten klebte. Es war nicht leicht, die eigene Lage anhand der Messdaten anderer zu beurteilen, weil nicht alle gern berichteten, wie es ihnen da oben ergangen war, welche Regelwidrigkeiten bei ihnen entdeckt worden oder welche Körperteile an der Reihe gewesen waren. Viele bemühten sich, die Dinge zu verharmlosen oder sie schamlos zu übertreiben. Obwohl niemand wissen konnte, was aus Verharmlosung oder Übertreibung folgte, und so wusste man auch nicht, was im Kleinkrieg gegen die Wissenschaft die bessere Verteidigungstaktik war.
Die peinlichen Messergebnisse verschweigen oder aufschneiden, übertreiben, dicker auftragen als die anderen.
Sie waren allesamt Bastarde, das war die Wahrheit.
Man hätte es vor ihnen nie ausgesprochen, und ebenso wenig erwähnten sie es untereinander. Aber der Gedanke ließ sich nicht abweisen, denn sie galten nicht nur in den Augen der Wissenschaft als Bastarde, sondern auch nach dem neuen Gesetz.
Trotzdem wurden sie nach den fortschrittlichsten und modernsten pädagogischen Gesichtspunkten erzogen. Die meisten hielten das für ein Täuschungsmanöver, was durchaus stimmte, aber das wissenschaftliche Niveau und die Qualität ihrer Erziehung waren trotzdem ernst zu nehmen.
Die Jungen waren rund neunundfünfzig an der Zahl, ohne große Schwankungen im Bestand, die Jungen, die Selbstmord begangen hatten, wurden jeweils ersetzt. Sie lernten in kleinen Gruppen, die nur ungefähr nach Altersstufen zusammengesetzt waren. Das Hauptgewicht lag auf den wissenschaftlichen Fächern, Mathematik, Physik, Botanik, Chemie, aber auch die alten Sprachen kamen zum Zug, Latein und Griechisch, Literatur und Geschichte, vor allem Alte Geschichte, die auch Archäologie und Ethnologie umfasste, wie sie im Lehrplan der Mittelschulen sonst nicht vertreten waren. Ihre physischen Leistungen und geistige Aufnahmefähigkeit wurden gemessen, diese Ergebnisse ihnen ausnahmsweise mitgeteilt, im Sinn eines Experiments in Leistungsförderung, bei dem der Wettbewerbsgeist angespornt werden sollte. Ihre geistigen Fähigkeiten und Intelligenz wurden geprüft, und in jeder Lebenslage wurde ihr Verhalten genau aufgezeichnet.
Ohne Notizbuch konnten sie sich ihre Erzieher gar nicht vorstellen. Sie mussten es sich als Privileg anrechnen, in einer solchen Umgebung leben und lernen und ihre Daten der höchsten deutschen Wissenschaft zur Verfügung stellen zu dürfen. Aber wie auch immer,
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