Parallelgeschichten
herunter.
Zuweilen hatte er beim abschließenden Urteil seine Hand im Spiel, doch darüber wurde schon gar nicht geredet, nicht untereinander, nicht mit Leuten außerhalb.
Man musste zu den unmöglichsten Zeiten zu ihm hinauf.
So lautete die Anweisung, alles stehen und liegen lassen, hinaufgehen, wann immer man gerufen wurde. Im Dachraum befanden sich nur diese beiden Ordinationszimmer und der Erholungsraum, außerdem, hinter verschlossenen Türen, die in einer strengen Ordnung gehaltenen Lager und Rumpelkammern, zu denen ausschließlich die Wirtschafterin Zugang hatte.
Und die ungewohnte Stille, die hier jeden überraschte und gleich ergriff.
Höchstens vom anderen Ufer des Bachs, von der großen Wiese oder den Sportplätzen, die zwischen feuchten, von Schneckenspuren glänzenden hohen Stützwänden lagen, konnte man hier Stimmen oder den Widerhall von Rufen hören. Oder Professor Schultze, der hinter verschlossener Tür sang oder in Rezitativen zu sich sprach, als trete er in mehreren Rollen einer unbekannten Oper auf.
Man horchte auf das Knarren der Balken oder des Fußbodens, wenn man vor Schultzes Tür stand und wartete.
Während der Untersuchung achtete Schultze auf den entsprechenden Körperteil und auf seine eiskalten Messgeräte, etwas anderes interessierte ihn nicht. Manchmal notierte er etwas, vernehmen ließ er sich kaum, machte eher Handzeichen, sie sollen sich so drehen, da hinstellen. Er blickte nie jemandem direkt in die Augen, wahrscheinlich war er auf die nicht neugierig. Die Instrumente klapperten, klirrten. Gefiel ihm etwas besonders, oder auch, wenn er mit dem Ergebnis unzufrieden war, schnalzte er mit der Zunge.
Schauen wir mal diese vortreffliche Distanz an, oh, Tibiale, wozu hast du dich vom Stylion so weit entfernt.
Das waren keine griechischen Götter, sondern Messpunkte des menschlichen Körpers.
Oder er sang, oh, Symphyse, zittre nicht, wenn dich Omphalion von oben im Auge behält. Das alles bedeutete, dass das Kniegelenk vom Handgelenk weiter entfernt lag als gewöhnlich, beziehungsweise dass die Haut über dem Schambein nicht so nervös zu zittern brauchte, da er ja nichts anderes tat als sein Spezialinstrument an die Distanz zum Bauchnabel anlegen. Nicht alle hatten Angst vor ihm. Die Geräte waren allerdings immer kalt, noch die Tapfersten fürchteten die erste Berührung. In gewöhnlichen Wörterbüchern waren diese Ausdrücke nicht zu finden. Sie hatten auch Angst, dass Schultze die entblößten Glieder berühren würde. Vor ihnen an der Wand des Ordinationszimmers hingen zwei lebensgroße Darstellungen des Skeletts. Die Messpunkte darauf waren mit Zahlen bezeichnet. Die eine Darstellung zeigte den menschlichen Körper von der Seite, mit siebenundzwanzig Punkten, die andere von vorn, mit achtundzwanzig Punkten, das alles nach Braus.
Dieser rätselhafte Name stand in schöner Sütterlinschrift über beiden Darstellungen, aber auch Braus fand sich nicht im Lexikon. Schultze blickte den Jungen nur in die Augen, wenn er die große Lederkassette mit den Instrumenten für die Messung der Augenfarbe hervorholte. Die Lederkassette verbreitete Schrecken, die meisten schlossen die Augen lieber sofort, sie taten ihnen schon im Voraus weh. Oder man vergrub das Gesicht rasch in den Händen.
Glasaugen blickten aus ihren mit schwarzem Samt bezogenen Fächern zur Decke. Je acht Augen in fünf Reihen, und die Kassette enthielt vier solcher heraushebbarer Fächer. Also insgesamt hundertsechzig verschieden gefärbte und gemusterte Glasaugen. Unter jedem Auge standen auf kleinen, in den Samt eingelassenen Messingtafeln die Kennbuchstaben und Kennziffern der Augenfarbe. Zwecks Übersicht musste Schultze zuerst die Samtfächer herausholen und auslegen. Auf dem untersten Fach der Kassette lagen auf dem Samtbett ein erschreckendes silbernes Instrument, das an eine Zuckerzange gemahnte, und ein stark duftender, hauchdünner Fächer aus Sandelholz.
Als Erstes arbeitete Schultze mit dem Fächer. Auf seinen selbständigen Segmenten befanden sich handgemalte Emailleschildchen mit den verschiedensten Augen, die Schultze zur Bestimmung der Farbe den Jungen vors Auge hob. Obwohl er eine ruhige Hand hatte, berührte er in seiner fachlichen Aufregung zuweilen mit diesen kleinen Pfauenaugen den echten Augenball.
Was bei den Jungen natürlich gleich ein schmerzliches Zischen auslöste.
Schultze sang dazu, sie sollen doch keine so heiklen kleinen Dummköpfe sein.
Nach dieser groben Bestimmung griff er zu
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