Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
der schauerlichen Silberzange, mit der man das wertvolle Glasauge leicht aus seinem Fach holen und neben das echte Auge halten konnte. Dabei leuchtete ihnen Schultze mit zwei starken Lampen ins Auge, von vorn und von der Seite. Zuvor hatte er ihnen Augentropfen verabreicht, damit sie nicht zwinkerten. Wenn sie sich wehrten oder doch unwillkürlich zwinkerten, sang Schultze, Ränke und Kabalen stören Gottes Schöpfung nicht, den Göttern steht man nicht entgegen, und verabreichte ihnen noch einen Tropfen in die Augen.
    Nach der Untersuchung irrten sie noch stundenlang mit gelähmten Lidern und riesig geweiteten Pupillen umher oder saßen reglos auf einer Bank, den Kopf in den Händen vergraben.
    Das Licht tat weh.
    Oder Schultze sang, stille, stille, ein einziges Secundum gewähre Geduld, Herzog, ich bin auf der Spur.
    Gleich wird der Schurke sein Verbrechen sühnen.
    Man rieb sich die Augen, nur schon um Zeit zu gewinnen.
    Nicht rumfummeln, nicht reiben, Junge, sonst nehm ich’s mit der Zange raus. Teufel auch, sang Schultze, tränt er mir doch, und da mussten sie die Augen doch wieder ergeben aufmachen, um die Initialtropfen oder die stabilisierenden Tropfen oder die Tropfen gegen das Tränen verabreicht zu bekommen.
    Die Stille hier oben rührte auch daher, dass sich unmittelbar unter ihnen, im zweiten Stock, die Schlafsäle befanden. Zwei größere, drei kleinere, die man tagsüber nicht betreten durfte. Zu jeder Jahreszeit standen alle Fenster offen. Sogar im dunstkalten Winter wurde kaum geheizt, hingegen wurden die etwas muffig riechenden Säle wegen der hohen Luftfeuchtigkeit auch in den Sommermonaten auf einer bestimmten Temperatur gehalten.
    Im ersten Stock befanden sich die Schulzimmer und der sogenannte Hauptsaal mit seinen beiden mächtigen Kaminen, den massiven Rauchfängen und den bemalten Holzlüstern. Unter den elektrischen Kerzen waren an den vergoldeten Rändern der bemalten Untertellerchen noch die Spuren von übergeflossenen Wachskerzen zu sehen. In diesem mit einer kunstvoll bemalten Kassettendecke versehenen großen Raum, dessen Eingang von zwei vollständigen Ritterrüstungen flankiert wurde und der deshalb auch Rittersaal genannt wurde, war sichtlich alles so geblieben, wie es die Thum zu Wolkensteins jahrhundertelang benutzt und in einer Art poetischer Unordnung zurückgelassen hatten, als die Baronin das Haus und das dazugehörige Gut dem Institut zur langfristigen Verwendung überlassen hatte.
    Sie hatte das in erster Linie aus wissenschaftspolitischen Erwägungen getan.
    Sicher, vom Kaiser-Wilhelm-Institut bezog sie eine hohe Jahresmiete, aber für ihre Karriere war noch wichtiger, dass sie ihren Sohn an einem sicheren Ort unterbringen konnte. Zum Haus gehörte das weite Tal mit seinen vom Frühling bis zum Herbst blühenden Wiesen, das teilweise regulierte Bachbett, der laute Wasserfall und die Wälder auf den Hängen, Tannen- und Eichenwälder, bis hinauf zum Berggrat, vom Ochsensprung zum Frauenholz, wo nur noch Wolken zogen. Dort oben erstreckte sich der angestammte Besitz der Baronin mit weiteren Wäldern und Weiden und Feldern, aber dieses ganze Gebiet war im Grundbuch separat eingetragen. Freiherr von der Schuer wollte jetzt das Eigentumsrecht des Hauses fürs Institut erwerben, eventuell auch ohne die Rechte auf die dazugehörigen Güter.
    Was er zunächst nicht erwähnte.
    Wenn er seinen Lagevorteil nicht rasch und unerbittlich ausnützte, würde ihm, fürchtete er, Himmlers Favorit, der kaltblütige Wolfram Sievers, bei diesem Manöver zuvorkommen, war es vielleicht schon, hatte das Haus vielleicht schon für seine Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe erworben. Eine mehrjährige Vorbereitungsarbeit wäre zunichtegemacht. Ein wissenschaftlicher Plan, für dessen Ausführung er mindestens noch ein Jahrzehnt an Forschungsarbeit benötigte, wenn nicht sogar zwei. Auch hätte er dem Führer gern zur Kenntnis gebracht, dass es, nicht nur im Hinblick auf die Kosten, ungünstig und sinnlos wäre, zweigleisig zu fahren.
    Zwei verschiedene wissenschaftliche Ergebnisse konnten ja nicht nebeneinander bestehen.
    In diesem Spiel mit hohem Einsatz war von der Schuer zu einem Kraftakt gezwungen, zu einer Zerreißprobe seiner Beziehung zum großmächtigen Himmler. Der sein wissenschaftliches Ansehen und seine Errungenschaften höchstens zum Schein respektierte. Freiherr von der Schuer wusste von seinem Assistenten Mengele persönlich, dass Sievers seit einigen Jahren ein Auge auf das

Weitere Kostenlose Bücher