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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Wolkenstein-Haus geworfen und mit der Baronin schon mehrmals über einen Kauf verhandelt hatte. Von der Schuer war von Mengeles Loyalität genauso wenig überzeugt wie von seiner wissenschaftlichen Qualifikation, aber er brauchte ihn jetzt. Er hatte Angst, Sievers würde das Haus übernehmen und das in mühsamer Kleinarbeit zusammengesuchte und schon für die Untersuchungen präparierte Kindermaterial einfach hinauswerfen. Andererseits setzte ihn auch die Baronin unter Druck, denn sie wollte nicht nur das römische Institut im Gegenzug für das Haus haben, sondern auch die Jahresmiete erhöhen. Für sein Deutsches Ahnenerbe suchte Sievers Häuser, die weitab von sämtlichen Siedlungen lagen. Das von Himmler geplante Netz war noch nicht einmal ausgebaut, als der Name dieser Institutionen schon die Phantasie des Volkes bewegte. Lebensborn, das Wort selbst begründete den zweifelhaften Ruf dieser Häuser. In denen der vollkommene Mensch hergestellt werden sollte. Die Baronin wollte die Miete gerade um den Preis erhöhen, den Freiherr von der Schuer aus seinem Budget nicht mehr zahlen konnte.
    Woraus auch gleich ersichtlich wurde, dass die Baronin ihre vorteilhafte Position kannte und ihn, genau besehen, erpresste.
    Das wusste wohl auch Mengele, bestimmt geschah es mit seinem und Sievers’ Einverständnis.
    Er hat ein verwunschenes, muffiges Jagdschloss in ein gut funktionierendes, den heikelsten hygienischen Ansprüchen genügendes Institut verwandelt, und die wollen ihn da rausekeln und sich ins gemachte Nest setzen.
    In Anbetracht der vielen, zum Teil noch aus dem Mittelalter stammenden Einrichtungsgegenstände, der alten Familienporträts, der schon recht zerschlissenen, in ein delikates Lebensalter eingetretenen Polstermöbel, des zerbrechlichen historischen Krams, der sogenannten Prunkgegenstände, der handgewobenen schweren venezianischen Seidenvorhänge und Tischdecken durften die Zöglinge, abgesehen von Heiligabend, den Rittersaal nicht betreten. Die Weihnachtsfeier selbst wurde im großen Speisesaal im Erdgeschoss abgehalten, wo zwei uralte Kachelöfen standen und die Wände mit Trophäen verziert waren. Nach dem Abschluss des festlichen Abendessens durften die musikliebenden Zöglinge in den Rittersaal hinauf, um einige klassische Grammophonplatten zu hören.
    Professor Schultze kam jeweils von Leipzig angereist. War er mit einem Jungen fertig, konnten dreißig bis vierzig Minuten vergehen, bis er den nächsten kommen ließ. Niemand wusste, was er in der Zwischenzeit tat. Ob er die Ergebnisse auswertete und ob die etwas damit zu tun hatten, wer der Nächste war.
    Ob er wohl eine Liste hatte.
    Hans hatte es zusammen mit einem Jungen namens Hendrik Franke, dem ältesten unter ihnen, der irgendwie schon übers Durchschnittsalter hinaus war und wegen seiner ruhigen, gemessenen Art von allen bewundert wurde und der jetzt gerade im botanischen Garten mit Kienast diskutierte, allerdings mehrmals geschafft, ins Ordinationszimmer einzudringen. Sie wollten eine Antwort auf ihre beunruhigenden Fragen, durchsuchten alles, nahmen ein paar Schriftstücke mit, ja, vernichteten sie, aber eine Liste fanden sie nicht. Schultze kam immer mit einer großen Aktentasche, darin hatte er wohl seine heikleren Papiere.
    Die musste man sich also beschaffen. Was gar nicht so unmöglich war, Schultze saß ja oft im Rittersaal und hörte Musik. Er sang den ganzen Tag vor sich hin, sogar wenn er die neuesten Ergebnisse in die Rubriken der sorgfältig vorbereiteten Tabellen eintrug und mit früheren Ergebnissen verglich, ja auch mit Ergebnissen von anderen Orten, von anderen Personen. Mit geübtem Blick erhärtete oder modifizierte er seine Arbeitshypothese. Er machte graphische Darstellungen vom Wachstumsrhythmus, verglich sie miteinander, wertete sie aber nur provisorisch aus.
    Um bei späteren Entscheidungen von keinerlei definitiver Aussage beeinflusst zu werden.
    Mag es also dieser da sein, sang und sann er, mag es dieser, mag es jener sein. Diese scheinbar mechanische Arbeit, die auf der genauen Kenntnis körperlicher Beschaffenheit und auf streng physikalischen Messungen beruhte, erwies sich aber als eine eher intuitive Methode. Es gab nichts, woraus die Jungen folgern konnten, was seine Entscheidungen beeinflusste und welche Konsequenzen seine manische Messerei für sie haben würde. Es kam nicht jedes Mal jeder dran, zuweilen wurden, aus einer wissenschaftlichen Laune Schultzes, mehrere Jungen für längere Zeit bei den Messungen

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