Parallelgeschichten
großes Geheimarchiv, wo er alles, was ihn berührte, wahllos aufbewahrte. Doch das Aufwachen des äthiopischen Mädchens, wie sehr er es auch heraufzubeschwören versuchte, wie hartnäckig er auch auf seinem Wiedererscheinen bestand, war einige Stunden später derart verblasst, dass er es anfangen und angreifen konnte, wie und wo er wollte, er konnte das Bild nicht zusammensetzen, weder aus ihren dünnen Gliedern noch aus ihren scharfen Gesichtszügen. Obwohl er jede ihrer Bewegungen einzeln ganz detailliert hätte aufrufen können. So wie sie ihre beiden ineinandergeschmiegten Hände unter dem Kopf hervorzog, wie sie ihre Lider langsam zur Welt öffnete. Und wie sie, während sie ihre Arme ausbreitete und die langen Beine ausstreckte, so befriedigt und selbstzufrieden gähnte, dass ihre Gliedmaßen während eines langen Augenblicks in der Bewegung erstarrten. Wie die dicht gekräuselten nachtschwarzen Haare wie ein langgezogener, hochgewölbter Kamm in ihrem Schritt standen. Ihr Körper wie ein überspannter glänzender Bogen. Ihrem Gähnen entrang sich sogar ein richtiges Brüllen.
Worauf sich die Athletin träge auf die andere Seite drehte, aufkniete und dem Mädchen zulachte. Ihre Brüste, von der plötzlichen Bewegung etwas schlaff geworden, schlugen gegeneinander, während sie verzaubert zusah, wie sich der aus dem Traum erwachende Körper mehrmals schüttelte. Sich schüttelnd und die Arme über den Kopf hebend und sich noch mehr streckend, drehte sich das Mädchen auf den Rücken und lag mit einem Mal völlig entspannt. Die Athletin beugte sich hin, beugte sich über sie, bedeckte sie, als wolle sie ihr etwas ins Ohr flüstern, ihre weißen Brüste schwangen nach vorn und berührten die kaffeebraune Haut des Mädchens.
Sogar der Gedanke durchzuckte ihn, dass er sich rasch ausziehen würde.
Vielleicht flüsterte sie ihr tatsächlich etwas ins Ohr, jedenfalls küsste sie das Mädchen, und der knochige, sehnige lange Körper spannte sich. Schon am Abend desselben Tags konnte Döhring diese Bilder nicht mehr heraufbeschwören. Er hörte noch das brüllende Gähnen, sah es aber nicht mehr. Auf das Mädchen wäre er neugierig gewesen, auf die lange Linie der hoch gekräuselten Behaarung auf ihrem Venushügel, stattdessen sah er die vom Training zerquälte Muskulatur, die zerdrückten, hinunterhängenden, schwingenden Brüste und das feuerrote Schamhaar der anderen Frau.
Mit diesen Bildern musste er sich am Abend, während er sich in den Schlaf wiegte, zufriedengeben.
Am folgenden Tag aber beschloss er schon während des morgendlichen Laufens, dorthin zurückzugehen und sich auszuziehen. Er rechnete sich aus, dass er etwas früher hinkommen musste, um sie sicher vorzufinden. Er merkte gar nicht, dass er nicht nur an die beiden Frauen dachte, sondern ebenso an die beiden Männer. Als er am Tag zuvor weggeradelt war und noch einmal auf den See zurückgeblickt hatte, schienen am anderen Ufer des ruhig gewordenen Wassers die beiden Gestalten in ein Gespräch vertieft. Er hatte hinübergeblickt, um den einzelnen Mann nicht beachten zu müssen, der hier am Ufer immer noch an sich arbeitete und mit dem Blick dem Fahrrad folgte, bis es unter den Bäumen verschwunden war. In seiner Neugier aber auf das, was die Menschen verbindet, und ob das, was sie verbindet, auch haltbar ist und sie vor der zähneklappernden Einsamkeit bewahrt, welcher andere wiederum durch ihr Naturell direkt ausgeliefert sind, identifizierte sich Döhring eher mit dem äthiopischen Mädchen oder dem braun gebrannten Mann als mit der roten Athletin oder dem weißen Riesen. Er war zwar ängstlich, zurückhaltend, aber weder verschämt noch besonders prüde. Wenn er überhaupt merkte, dass ihn jemand betrachtete, wagte er zwar den Blick nicht zu erwidern, da er vor Beziehungen Angst hatte, aber seinen Körper lieferte er fremden Blicken gern aus.
Das verpflichtete noch zu gar nichts.
Bloß radelte er vergeblich durch den Wald, den märchenhaften kleinen See fand er nicht mehr.
Nicht einmal den breiteren Spazierweg, von dem er abgekommen war und der ihn vielleicht wieder zum See geführt hätte. Er fuhr über unbekannte Lichtungen in unbekannte Wälder hinein. Es war ein strahlend schöner Tag, scharfe kleine Winde vibrierten in der Luft, es war ein Vergnügen, das Rad in Schwung zu bringen. Als habe er etwas Gefährliches hinter sich. Als habe er etwas verpasst, würde sich aber mit dem Gefühl von Erleichterung entschädigen. Am Ende fand er ein
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