Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
jemanden, der …«
Hinter ihm gellte ein Schrei, ein Auto hielt mit quietschenden Reifen, und – plötzlich schleuderte sie den Stein. Blackburn ging in Deckung. Geschmeidig wie ein Tier sprang die Psycho-Schlampe ihn an, umklammerte seinen Hals und presste ihn gegen die nächste Mauer. Die Mini-Mag fiel ihm aus der Hand, die Schreie wurden lauter. Endlich erschienen Toomey und sein Partner, rissen die Frau von ihm weg und warfen sie zu Boden. Blackburn rappelte sich auf und rang nach Luft.
Wütend starrte er die Polizisten an. »Nicht zu fassen, dass ihr beiden Schwachköpfe diesem Miststück keine Handschellen angelegt habt.«
Immer noch benommen stahl sich Solomon von dem Krankenwagen fort und beobachtete, wie die Horde Schaulustiger die Straße überquerte und sich auf den Polizeiwagen zu bewegte. Die Sanitäter hatten sich bereits zu Fuß auf den Weg gemacht. Nun führten die Uniformierten sie ab – die Frau, die nicht ganz Myra war. Sie ging zwischen ihnen, in Handschellen, ihr geschundener und blutender Körper den Blicken der Menge ausgesetzt. Solomon dachte an ihr Gesicht, daran, wie anders es ausgesehen hatte. Dieser wilde, gehetzte Blick.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke – eine Erinnerung an seine Kindheit in St. Thomas und an seinen Großvater, der gern Geschichten erzählte. Geschichten von Finsternis, Tod und Auferstehung.
Er dachte daran, was diese Geschichten ihm bedeutet hatten, und plötzlich drängte sich ein Satz in seine Gedanken, ein Satz, der ihm jahrelang Alpträume beschert hatte:
Enfants du tambour .
Kinder der Trommel.
TEIL 2
Der Mann,
der nicht loslassen konnte
4
Ein Anruf um drei Uhr morgens bedeutet nichts Gutes.
Das hatte Tolan schmerzhaft erfahren müssen, als der Anruf wegen Abby kam. Vor genau einem Jahr, an einem Morgen wie diesem, kühl, doch noch nicht kalt. Nur, dass er sich damals in einem überheizten Hotelzimmer befunden hatte und nicht wie jetzt in seinem eigenen Bett.
Er dachte oft an jenen Morgen. Vor allem dann, wenn er nicht schlafen konnte. Die häufigen Phasen der Schlaflosigkeit waren eine Nachwirkung der Tragödie. Die Trauer, die ihn dann überfiel, war so greifbar und unerbittlich wie ein Gewitter.
Im Moment wurde diese Trauer allerdings von einem erneuten Anflug von Schuldgefühlen überschattet. Nicht die üblichen Schuldgefühle – die gab es immer. Es war etwas Neues. Etwas anderes. Denn die Frau, die für ihn da gewesen war, die ihn in den ersten unerträglichen Tagen getröstet hatte, schlief nun friedlich neben ihm, ein ruhiger Pol in diesem Chaos.
Tolan lag da, starrte in die Dunkelheit und lauschte auf Lisas kaum wahrnehmbare Atemzüge. Er fühlte die Wärme ihres Rückens an seinem und versuchte, nicht an Abby zu denken, auch nicht daran, dass einst sie diesen Platz eingenommen hatte.
Auf dem Nachttisch vibrierte sein Mobiltelefon. Er sah auf die Uhr. 3:05. Er überprüfte das Display. Die Nummer war unterdrückt. Zunächst wollte er das Telefon einfach summen lassen, doch er befürchtete, Lisa könnte aufwachen. Er stand auf, ging ins Badezimmer und nahm den Anruf gerade noch rechtzeitig entgegen, bevor die Mailbox ansprang.
»Hallo?«
»Dr. Tolan?« Die Stimme eines Mannes, kaum mehr als ein Flüstern.
»Ja?«
»Dr. Michael Tolan?«
»Richtig«, antwortete er mit unverhohlener Ungeduld. »Was ist denn?«
»Heute ist der Tag, Doktor. Der Tag, auf den ich gewartet habe.«
»Wie bitte? Wer sind Sie?«
»Das werden Sie noch früh genug erfahren«, sagte der Anrufer. »Ich wollte Ihnen nur einen schönen Jahrestag wünschen, bevor ich Ihnen die Kehle durchschneide.«
Es klickte in der Leitung.
Als das Telefon erneut vibrierte, hatte sich Tolan bereits eingeredet, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab. Der Anrufer war zweifellos ein ehemaliger Patient, der Psychospielchen veranstalten wollte. Damals hatte Tolan es in seiner Privatpraxis mit einer Reihe von schwierigen Fällen zu tun gehabt, und nicht zum ersten Mal wollte sich jemand auf seine Kosten einen Scherz erlauben. Sein Beruf brachte derlei Drohungen ganz einfach mit sich.
Dennoch – der Anruf hatte etwas äußerst Beunruhigendes gehabt. Dieser flüsternde Tonfall und die bedrohlich klingende Stimme … Tolan versuchte, sich zu beruhigen, doch beim Anblick des vibrierenden Telefons auf der Badezimmerablage verspürte er wachsendes Unbehagen. Er fragte sich, ob es einer seiner gegenwärtigen Patienten sein könne, jemand aus dem Krankenhaus. Es war allerdings
Weitere Kostenlose Bücher