Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
»Es ist an der Zeit, Michael … Jetzt kannst du mitkommen …«
»Abby, nein …«
»Es ist gut so … Wir werden zusammen sein … Wir werden für immer zusammen sein …«
»Versprich mir das!«, sagte er.
Sie lächelte. »Ich verspreche es.«
Sie presste noch einmal seine Hand und schloss dann leise die Augen. Einen Augenblick später, im Angesicht des Todes, setzte die Rückverwandlung ein. Ihre Gesichtszüge veränderten sich, die Wangenknochen wurden kräftiger, die Nase schmaler. Innerhalb von Sekunden fand sich Tolan neben einer Fremden wieder: Jane X Nummer 314.
Doch es war nicht mehr wichtig. Tolan wusste, bald würde er bei Abby sein, denn auch er begann zu schweben. Von weit entfernt hörte er ein Schluchzen. Lisa beugte sich über ihn und griff weinend nach seiner Hand. Er fragte sich, ob für Menschen wie sie ein Platz in der Hölle reserviert war.
»Verlass mich nicht!«, schrie sie. »Wag es bloß nicht, zu sterben.«
Doch genau das tat er. Es würde nicht mehr lange dauern.
»Es tut mir so leid, Michael. Warte! Du musst noch –«
Plötzlich riss sie ungläubig die Augen auf, die Worte blieben ihr im Halse stecken.
Schließlich verstand sie. Fühlte den Schmerz.
»Es tut weh«, sagte sie kaum wahrnehmbar und sackte in sich zusammen.
Tolan starrte in ihre leblosen Augen. Um wirkliche Überraschung zu zeigen, fehlte ihm die Kraft. Dennoch war er überrascht, als er sah, wer hinter Lisa stand.
Ein vertrautes Gesicht. Ein Freund. Niemand Geringeres als Clayton Simm. Mit einem blutigen Skalpell in der Hand.
Er lächelte Tolan an, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Ich fürchte, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Doktor. Ehrlich gesagt, ist mir der Verlauf des Geschehens ein wenig peinlich.«
»Clay?« Tolan versuchte, zu begreifen, was hier vor sich ging. »Du warst es …? Du bist …?«
Seine Stimme versagte.
»Vincent, wolltest du wohl sagen. So werde ich im Moment zumindest genannt. Wer weiß, wie ich morgen heißen werde.«
Er bückte sich und wischte das Skalpell an Lisas BEST-OF-SHOW-T-Shirt ab.
»Tut mir leid, dass es so gekommen ist. Aber jeder macht mal einen Fehler.«
Er lächelte wieder und verschwand in der Dunkelheit.
»Bestell Han van Meegeren schöne Grüße von mir.«
Nachdem Vincent gegangen war, stolperte laut polternd Detective Blackburn herein. Er sah aus, als hätte ihn ein riesiger Truck angefahren.
Beim Anblick der Toten entfuhr ihm ein Fluch, dann brach er bewusstlos zusammen.
Ein allerletztes Mal schloss Tolan die Augen, Abbys liebliche Stimme im Ohr. Schlaf Michael. Es ist Zeit zu schlafen.
TEIL 7
Der Mann,
der sich verabschiedete
60
Sue Carmodys Leiche wurde nie gefunden.
Stattdessen entdeckte man in den Gewölben des alten Klinikgebäudes einen Raum, in dem sich Vincent aufgehalten hatte, ausgerüstet mit Schlafsack, tragbarem Ofen und einem weiteren Generator. Es fanden sich auch Andenken an Vincents Morde: Schmuck, Fotos, Kleidung. Mordwerkzeug. Außerdem hatte er zwei Briefumschläge hinterlassen. Einer war an die van Gogh Task Force adressiert, der andere an Blackburn persönlich.
Der Brief an die Task Force enthielt eine exakte Schilderung, die Blackburns Verdacht bestätigte. Vincent gab ausführlich Auskunft über den gescheiterten Versuch, sich bei Tolan einzuschleichen und ihn als Mörder darzustellen. Nachdem Tolan ihn für den Mord an Abby verantwortlich gemacht hatte, habe er keine andere Möglichkeit gesehen, als Tolan alle Morde anzuhängen. Ihn dastehen zu lassen wie einen Verrückten. Die Beweise, die er in Tolans Haus platziert hatte, die gelöschten Telefondaten und der Mord an Sue Carmody sollten den Verdacht nur noch untermauern.
Er sei jedoch gern bereit, zuzugeben, dass er einem furchtbaren Irrtum unterlegen war. Er hoffe, das vorzeitige Ableben der Krankenschwester Lisa Paymer würde seinen Fehler ausmerzen. Er jedenfalls fühle sich dadurch besser.
Ferner informierte er die Task Force, die Leiche des echten Clayton Simm sei auf einem unbebauten Grundstück oben in San Mateo vergraben. Außerdem bedankte er sich beim Personal der Psychiatrischen Klinik Baycliff dafür, dass man ihn so freundlich aufgenommen habe. Er sei zutiefst über jegliches Leid betrübt, so schrieb er, das er verursacht habe.
Als Blackburn den an ihn adressierten Brief erhielt, öffnete er ihn nicht sofort. Er war nicht sicher, ob er ihn überhaupt jemals lesen würde, obwohl er wusste, dass die Abteilung ihn schon mindestens
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