Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
an Solomon. »Sie kennen die Frau?«
Solomon nickte. »Ich glaube, ja. Ich müsste sie mir mal genauer ansehen.«
Blackburn ging mit ihm zum Krankenwagen. »Bitte.«
Solomon sah sich um und spürte, dass alle ihn anstarrten. Er kletterte in den Wagen. Die Frau war voller Blut, auch die Decke war stellenweise blutgetränkt. Ihre linke Schulter war entblößt, und sofort erkannte Solomon das verblasste Hello-Kitty-Tattoo. Myra hatte ihm erzählt, dass sie in ihrer Zeit als Model Kitty genannt worden war. Wenn sie ein Fotostudio betrat, riefen alle »Hello, Kitty« und brachen in Gelächter aus.
Er richtete seinen Blick auf ihr Gesicht und riss überrascht die Augen auf. Doch es war nicht das Blut, was ihn erschreckte. Unwillkürlich wich er einige Schritte zurück und stolperte beinahe aus dem Krankenwagen.
Der Bulle namens Blackburn fing ihn auf. »Was ist los?«
»Nix«, antwortete Solomon. »Sie … sie sieht anders aus, das ist alles.«
»Anders? Ist das jetzt Ihre Freundin oder nicht?«
Solomon hatte es die Sprache verschlagen. Wie war das möglich? Als er seine Stimme wiedergefunden hatte, sagte er: »Ich dachte erst, sie ist es, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Wie meinen Sie das?«
Solomon schluckte. »Das ist ihr Körper. Aber da stimmt was nicht mit ihrem Gesicht.«
Blackburn sah ihn stirnrunzelnd an. Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber plötzlich riss die Frau die Augen auf, weit und angsterfüllt wie ein Tier, das in der Falle saß. Ihre Lippen bewegten sich, und die Worte sprudelten so schnell hervor, dass man sie kaum verstehen konnte.
»… eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«
Was sollte denn das?
»… eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«
Sie starrte Solomon an.
»Zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine …«
Plötzlich sprang sie mit einem Wutschrei von der Trage und stürzte sich auf Solomon.
Blackburn hatte so etwas noch nie gesehen. Gerade noch hatte sie wirres Zeug gebrabbelt, und im nächsten Moment schnellte sie wie ein Geschoss auf den alten Obdachlosen zu. Blackburn wollte sie festhalten, doch da drehte sie sich blitzschnell zu ihm um und traf ihn völlig unvorbereitet mit der blutigen Faust am Kopf. Er taumelte zurück. Bevor er reagieren konnte, stürmte sie aus dem Krankenwagen und rannte davon. Toomey, sein Partner und die Sanitäter beobachteten verblüfft, wie sich Blackburn aufrappelte und die Verfolgung aufnahm.
Die Frau bahnte sich einen Weg durch die schreiende Menschenmenge, überquerte die Straße und lief auf eine enge Seitenstraße zu, die von parkenden Autos und heruntergekommenen Häusern gesäumt war. Blackburn hörte, wie hinter ihm ein Motor ansprang – endlich waren die Streifenpolizisten aus dem Koma erwacht –, aber die Psycho-Tante verschwand zwischen zwei Häusern. Blackburn zog seine Glock und rannte hinter ihr her. Erst vor dem Durchgang verlangsamte er seine Schritte. Er lauschte, hörte jedoch nichts außer dem Tumult hinter ihm, entferntem Hundegebell und … Was war das?
Wieder das Gebrabbel der Psycho-Tante. Ein kaum wahrnehmbares Flüstern: »Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien, eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien, eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf …«
Blackburn schaltete seine Mini-Mag an und leuchtete in den Durchgang. Die Frau hockte neben einem verrosteten Fahrrad an einer Hausmauer. Ihr blutverschmiertes Gesicht glänzte in der Dunkelheit, sie wirkte verwirrt und verängstigt. »Zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge …«
Langsam ging Blackburn auf sie zu. »Ganz ruhig.«
Sie wühlte im Dreck und umklammerte schließlich einen mittelgroßen Stein. Die Innenseite ihres Arms war von Blutergüssen übersät. Einstichstellen.
»Fallen lassen!«, sagte Blackburn. »Legen Sie das hin.«
»Zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine …«
»Na los, niemand will Ihnen etwas tun. Legen Sie den Stein hin und kommen Sie von der Wand weg.«
Er ahnte, dass es sinnlos war, mit ihr zu sprechen. Sie war vollkommen abwesend. Dennoch versuchte er es weiter und fragte sich, wo zur Hölle die Verstärkung blieb.
»Legen Sie das hin«, wiederholte er. »Legen Sie das hin, wir holen
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