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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Felder
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Augenblick wieder aufgekündigt werden und ich müsse wieder zurück in die Welt, in die ich eigentlich gehöre. Hinter die Mauern, hinter denen ich großgezogen wurde. Zurück zu hochglanzgescheuerten Linoleumböden, Abendandachten und Morgenandachten, Tischgebeten und Nachtgebeten, regelmäßiger Beichte, Züchtigung und Erniedrigung, dem Brüllen der Erzieher und Kinder und dem erdrückenden Gefühl des Eingesperrtseins.
    Natürlich weiß ich, dass diese Zeit ein für allemal vorbei ist. Aber ich kann nichts dagegen tun, ich komme immer wieder nur auf dieses eine Thema zurück. Meine Arbeit hilft mir nicht so sehr, dieses Problem zu überwinden, sondern es – zumindest zeitweise – auszublenden. Ich glaube, meine Karriere ist alles, was mich am Leben hält. Nachdenklich reibe ich mir über mein Kinn und merke, wie läppisch es klänge, würde ich versuchen, das jemandem zu erklären.
    Eine Stimme, die immer auftaucht, sobald ich beginne, über meine Vergangenheit zu grübeln, sagt:
    Komm doch mit. Das wird bestimmt lustig.
    Ich bin allein im Zimmer. Und ich kenne die Stimme. Ich höre sie oft. Diese eine Szene spult sich immer wieder in meinem Kopf ab.
    Ich stoppe mein Tippen und starre tatenlos auf den Bildschirm. Konzentriere mich. Denn – ich muss schlucken. Ich muss dringend schlucken. Wie man eben einfach schluckenmuss. Speichel entsorgen. Aber ich schlucke nicht. Ich werde es einfach nicht tun. Minuten vergehen. Das macht dich wahnsinnig. Diesem Bedürfnis gebe ich nicht nach. Dafür verschwindet die Stimme in meinem Kopf langsam, wird leiser, leiser. Nicht schlucken. Ich werde nicht schlucken. Grundbedürfnisse beschneiden. Irrsinn. Den sich sammelnden Speichel in die Mundwinkel pressen, nicht nachgeben. Nicht den Hals anspannen. Nicht. Schlucken. Ich erhebe mich und führe mit vollem Schwung eine Art Karatehieb auf eine senkrechte Stahlstrebe der Fensterfront aus. Zur Verlagerung meiner Aufmerksamkeit. Es tut höllisch weh. Erfüllt somit seinen Zweck. Ich massiere meine linke Handkante. Ich glaube, sie ist nicht gebrochen. Die Stimme in meinem Schädel verstummt gänzlich. Mein Mund ist voller Flüssigkeit. Ein angedeutetes Klopfen ertönt. Ich entgegne einfach nichts. Salzsäule. Die Tür öffnet sich vorsichtig, und eine weibliche Stimme fragt sanft: »Du bist ja noch da? Ich wollte dir nur noch mal persönlich gratulieren, weil ich vorgestern doch unterwegs war und wir uns nicht mehr gesehen haben. Ich will gar nicht lang stören.« Ein Versprechen?
    Zaghaft hebe ich meinen Kopf, sehe Esther an. Ihre mittelbraunen, mittellangen Haare über einem perfekten Gesicht, das dazu da zu sein scheint, viel zu sehen und wenig auszudrücken. Esther: Controllerin, Bestjahres-Absolventin, Auslandsstudium, unter anderem Harvard und ENA Paris, Doktortitel, erste Fachbuchveröffentlichung nächstes Jahr, Prada-Import-Kostüme, Golf-Ressort-Urlaube, Porsche Cayenne – und doch nur ein Trostpreis. Intellektuell und menschlich ein A-plus-Mensch. Optisch, na ja. Ich kann’s nicht ändern. Niemandes Typ. Aber ich schätze Esther sehr. Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, habe ich das seltsame Gefühl, mit einem einzigen Blick die zentralen Elemente ihres Charakters zu erfassen. Sie hat ein gutes Herz. Wie vielen Menschen begegnet man schonim Leben, von denen man das sagen kann. Womöglich erkenne ich das nur, weil ich nicht mit ihr schlafen will.
    »Komm doch rein, hi«, sage ich. Meine Stimme ist belegt, ich blubbere fast. Aber ich schlucke nicht.
    »Also …« Esther macht einen Knicks und neigt ihren Kopf zur Seite, versteht diese Übertreibung als Parodie auf die höfische Etikette der Renaissancezeit, sieht dabei aber ungewollt grazil aus. In Familien, aus denen Frauen wie Esther stammen, gehört Ballettunterricht für Mädchen ab vier zur Grundausbildung. »… Glückwunsch, Conrad.«
    »Danke, Esther, danke«, sage ich und bewege meine linke Hand an der Innenseite meines rechten Unterarms auf und nieder. Unentwegt pulsiert eine Prellung dritten Grades an meiner Handkante im Rhythmus meines Herzschlags. »Wirklich schade, dass du zu meiner kleinen Feier nicht kommen konntest. Und du? So spät noch hier? Hast du viel zu tun?«
    Sie tritt näher. Der leere Raum zwischen uns verringert sich. An meinem Eindruck, wie durch einen unsichtbaren Panzer von ihr und der übrigen Welt getrennt zu sein, ändert das jedoch nichts. Sie wirkt müde, und vermutlich trifft das auch auf mich zu. Der nicht allzu breite Lichtkegel meiner

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