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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Felder
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fragen, wie ich denn jetzt dadrauf komme, und antwortet: »Also, wenn man mal davon ausgeht, dass da was dran ist, dann glaube ich, das spricht eindeutig für sie.« Dann ruft er dem Kellner zu »One more, please«, zeigt mit seinem kreisenden Zeigefinger auf unsere Tischplatte und sagt, erheblich leiser zu mir: »Aber weißt du was? Ficken würde ich sie trotzdem nicht.«
    Und ich reagiere mit stiller Bestürzung auf diese Bemerkung, weil mir klar wird, dass das für mich eigentlich nicht mehr zutrifft. Was mich etwas erstaunt. Klar ist sofort, dass ich das Thema wechseln und diese Erkenntnis für mich behalten sollte. Darum raune ich belustigt und krame in meinen Taschen, wie um von diesen Gedanken abzulenken: »Für meinen Geschmack wird der Ficken-Aspekt dieser Unterhaltung langsam etwas penetrant.«
    »Soll das ein Witz sein? Ficken ist kein Kraftausdruck, sondern ein Tätigkeitswort von geradezu euphemistischer Kraft, also hab dich nicht so.« Ben macht einen Schmollmund, ich imitiere ihn. Jedes Gespräch erreicht einmal den Punkt, an dem es ins Bedeutungslose umkippt und sich das Ende ankündigt. Von uns vollkommen unbemerkt, hat sich die Bar inzwischen wie von Zauberhand gefüllt. Proppenvoll. Es geht zu wie in einem Taubenschlag. Ich sage in resigniertem Nachrichtensprecher-Tonfall: »Ich hatte gehofft, unsere gemeinsame Firmengründung könnte womöglich den Beginn unseres langersehnten Erwachsenenlebens darstellen, aber …«
    »Sag bloß.«
    »… aber schon jetzt sehe ich da schwarz.«
    »Jetzt mach mal nen Punkt. Wir könnten es doch zumindest versuchen«, räumt Ben ein und schaut dabei wie ein Lämmchen.
    Dann streckt er sich, macht ein ernstes Gesicht und sagt mit gespielt unbändigem Tatendrang in der Stimme: »Aber weißt du was?«
    »Ich höre.«
    »Morgen um sieben legen wir los und entwickeln Herrn Karl J-Punkt Marischka und seinen Pappenheimern einen Strategieplan, den sie so noch nicht gesehen haben.«
    »Absolut!«, flüstere ich klar und deutlich: »Morgen ficken wir die.«

30
    Meine Koffer sind gepackt. Am letzten Abend in Nowosibirsk lege ich mich um Mitternacht ins Bett. Decke mich zu. Beiße an meiner Innenlippe rum. Danach passiert fünf Stunden lang nichts. Dazu ist nichts weiter zu sagen. Ich schlafe um zwei vorfünf ein – und schrecke um eins nach fünf wie vom Blitz getroffen auf, in der Angst, verschlafen zu haben. Als mich die rot leuchtenden Digitalziffern des Radioweckers beruhigen, sinke ich aufgewühlt aufs Kissen zurück. Und es überrascht mich kein bisschen, als ich mit einem Mal wieder Christians Stimme höre. Aus dem Off meiner Hirnwindungen. Hallo! Lang hat sie geschwiegen, die ganze letzte Woche. Der Wortwechsel, der komplette letzte Wortwechsel zwischen Christian und mir, der, den ich seit dreizehn Jahren immer und immer und immer wieder höre, läuft ab, rattert vor sich hin. Wie eine Tonbandschleife in meinem Kopf.
    Ich knipse das Nachttischlämpchen an, um die Stimme zu verscheuchen. Der Schein der matten Birne erleuchtet das Zimmer schwach und deprimierend. Es beeinflusst Christian nicht im Geringsten. Er hält nicht mal inne, wartet nicht mal ab, bis ich wenig später wieder ausschalte. Alles wird schwarz. Ich höre, wie er mir zuruft, ich solle mitkommen, zum Fußballspielen, mit mir würden sie zwei gleich starke Mannschaften zusammenbekommen, ohne mich fehle ein Mann, ich könne mir die Rückennummer aussuchen. Warum komme ich denn nicht mit, was ist denn los mit mir? Und ich höre mich selbst antworten: »Ich fühle mich nicht besonders, geht mal ohne mich, vielleicht komm ich ja noch nach.« Es war ein sonniger Hochsommertag. Und Christian und die anderen Jungs gehen gemeinsam aus dem Bild meiner Erinnerung, stapfen über die hohe Wiese. Es war heiß und trocken. Und das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Es war der 23. Juli. Der letzte Tag meiner Kindheit. Ungefähr eine halbe Stunde später, als sich nur noch Pater Cornelius und verschiedene andere Lehrkräfte im Schultrakt des Klosters befanden und vielleicht noch ein paar wenige Mitschüler, von denen ich sowieso keinen leiden konnte, habe ich das Feuer gelegt. Im Schlafsaal, mit einer brennenden Tageszeitung. Das Feuer breitete sichrasend schnell aus, zerstörte den kompletten Westflügel des Heims, inklusive großer Teile der Abtei. Was ich nicht wusste, was ich doch nicht wissen konnte, war, dass Christian sich gleich in den ersten Spielminuten am Schienbein verletzt und das

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