Paris im 20. Jahrhundert
Frau, die soeben hereinkam, »ist das Abendessen in Vorbereitung? Wir sind heute drei ausgehungerte Tischgenossen.«
»Ist alles auf dem besten Weg, Monsieur Quinsonnas«, erwiderte die Aufwartefrau; »aber ich konnte den Tisch nicht decken, denn es ist ja keiner da.«
»Wir können ihn entbehren!« rief Michel, der die Vorstellung, auf den Knien zu speisen, bezaubernd fand.
»Was! Wir können ihn entbehren!« entgegnete Quinsonnas. »Glaubst du, ich lade Freunde zum Essen ein, ohne ihnen einen Tisch anbieten zu können?«
»Ich verstehe nicht«, antwortete Michel und warf einen vergeblichen Blick um sich …
Das Zimmer enthielt in der Tat weder Tisch noch Bett, weder Schrank noch Kommode, noch Stuhl; kein einziges Möbelstück, dafür aber ein ansehnliches Klavier.
»Du verstehst nicht«, antwortete Quinsonnas. »Na schön! Und die Industrie, diese herzensgute Mutter, und die Mechanik, diese mildtätige Tochter, die vergißt du so einfach? Hier ist der verlangte Tisch.«
Sprach’s und trat zum Klavier, drückte auf einen Knopf und ließ einen Tisch mit Bänken, an dem drei Tischgesellen bequem Platz finden konnten, im wahrsten Sinn des Wortes hervorspringen.
»Das ist genial«, meinte Michel.
»Soweit mußte es ja kommen«, antwortete der Pianist, »denn die beengten Wohnverhältnisse erlaubten es nicht mehr, für alles spezielle Möbel zu besitzen! Schau dir dieses komplexe Instrument an, ein Erzeugnis der
Vereinigten Häuser Érard und Jeanselme!
Es ist für alles mögliche zu gebrauchen und beansprucht wenig Platz, und du kannst mir glauben, deswegen ist das Klavier auch nicht schlechter.«
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Quinsonnas öffnete und kündigte seinen Freund Jacques Aubanet an, Angestellter der
Allgemeinen Unterseeminenkompanie.
Michel und Jacques wurden einander ohne jede Förmlichkeiten vorgestellt.
Jacques Aubanet, ein gutaussehender Bursche von fünfundzwanzig Jahren, war mit Quinsonnas eng befreundet und stand wie dieser am Rande der Gesellschaft. Michel wußte nicht, mit welcher Art von Tätigkeit die
Unterseeminenkompanie
ihre Angestellten beschäftigte; aber jedenfalls brachte Jacques einen gehörigen Appetit von dort mit.
Das Essen war zum Glück fertig; die drei jungen Männer machten sich heißhungrig darüber her; nach einem kurzen Augenblick des Kampfes mit den Speisen bahnten sich endlich ein paar Worte zwischen weniger hastig hinuntergeschlungenen Stücken den Weg.
»Mein lieber Jacques«, sagte Quinsonnas, »ich habe dir Michel Dufrénoy vorgestellt, um dich mit einem jungen Freund bekannt zu machen, der zu uns gehört, er ist einer dieser armen Teufel, denen die Gesellschaft die Ausübung ihrer Fähigkeiten verweigert, eines dieser nutzlosen Mäuler, die man stopft, um sie nicht ernähren zu müssen.«
»Aha! Monsieur Dufrénoy ist ein Träumer«, antwortete Jacques.
»Ein Poet, mein Freund! Und ich frage dich, was er auf dieser Welt zu suchen hat, auf der die höchste Pflicht des Menschen darin besteht, Geld zu verdienen!«
»Ganz offensichtlich«, fuhr Jacques fort, »hat er sich im Planeten geirrt.«
»Meine Freunde«, sagte Michel, »was ihr da sagt, ist nicht gerade ermutigend; aber ich weiß mit euren Übertreibungen umzugehen.«
»Dieser teure Junge«, entgegnete Quinsonnas, »er hofft, arbeitet, begeistert sich für gute Bücher, und auch wenn keiner mehr Hugo, Lamartine und Musset liest, so hat er doch die Hoffnung, selbst gelesen zu werden! Aber, du Unglückseliger! Hast du denn eine nützliche Dichtung erfunden, eine Literatur, die den Wasserdampf oder die Sofortbremse ersetzt? Nein? Nun denn! Bremse lieber deinen Ärger, mein Sohn! Wenn du nicht irgend etwas Erstaunliches erzählst, wer wird dir schon zuhören? Die Kunst ist nur mehr möglich, wenn sie mit einem Hochseilakt daherkommt! In unserer heutigen Zeit würde Hugo seine
Orientalia
vortragen, während er auf Zirkuspferden Luftsprünge vollführt, und Lamartine seine
Harmonien
von den Höhen eines Trapezes herab in Umlauf bringen, mit dem Kopf nach unten!«
»Unmöglich«, rief Michel und sprang auf.
»Nur ruhig, Junge«, antwortete der Pianist, »und frage Jacques, ob ich recht habe!«
»Hundertmal«, sagte Jacques; »diese Welt ist nur mehr ein Markt, ein riesiger Jahrmarkt, und man muß die Leute mit Gaukelspielen unterhalten.«
»Armer Michel«, meinte Quinsonnas und seufzte, »sein Preis für lateinische Verse wird ihm den Kopf verdrehen!«
»Was willst du damit sagen?« fragte
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