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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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der junge Mann.
    »Nichts, mein Sohn! Im Grunde genommen kennst du dein Schicksal! Du bist ein großer Dichter! Ich habe einen Teil deiner Werke gesehen; du wirst mir die Feststellung erlauben, daß sie nicht dem Geschmack des Jahrhunderts entsprechen.«
    »Wie das?«
    »Es steht außer Zweifel! Du behandelst poetische Themen, und heutzutage gilt das als Fehler in der Dichtkunst! Du besingst Wiesen, Täler, Wolken, Sterne und die Liebe, lauter abgenützte Dinge, die niemand mehr haben will!«
    »Aber wovon soll ich denn sonst sprechen?« meinte Michel.
    »Du mußt in deinen Versen die Wunder der Industrie preisen!«
    »Niemals!« schrie Michel.
    »Das war gut gesagt«, erwiderte Jacques.
    »Also«, fuhr Quinsonnas fort, »kennst du jene Ode, welche vor einem Monat durch die Vierzig von Broglie, die überflüssigerweise in der Akademie herumsitzen, ausgezeichnet worden ist?«
    »Nein!«
    »Nun denn! Hör zu und laß es dir eine Lehre sein! Die letzten zwei Strophen lauten:
     
    Dann züngelt die feurige Kohle empor
    In des mächtigen Kessels glühendem Rohr!
    Der lodernde Riese ist furchtlos entschlossen!
    Unter bebendem Panzer die Maschine erschafft
    Mit heulendem Dampf die siegreiche Kraft
    von achtzig Rossen.
     
    Doch mit schwerem Hebel der Heizer zwingt
    Die Schieber auf, im Zylinder singt
    Der Doppelkolben mit raschem Gestöhn!
    Es dreht sich das Rad! Das Tempo nimmt zu!
    Der Pfiff ertönt! … Leb hoch, o Lokomotive du
    aus Cramptons System!
     
    »Abscheulich«, rief Michel.
    »Gut gereimt«, meinte Jacques.
    »So, mein Sohn!« antwortete der unbarmherzige Quinsonnas. »Möge der Himmel dafür sorgen, daß du nicht gezwungen wirst, mit deinem Talent dein Auslangen zu finden, und nimm dir uns zum Beispiel, wir haben uns in das Unumstößliche gefügt und warten auf bessere Tage.«
    »Befindet sich denn auch Monsieur Jacques«, fragte Michel, »in der Zwangslage, irgendeinem abstoßenden Berufe nachzugehen?«
    »Jacques ist Expedient bei einem Industrieunternehmen«, antwortete Quinsonnas, »was aber zu seinem großen Bedauern nicht heißt, daß er an einer Expedition teilnimmt!«
    »Was bedeutet es dann?« fragte Michel.
    »Es bedeutet«, antwortete Jacques, »daß ich gerne Soldat geworden wäre!«
    »Soldat!« meinte der junge Mann erstaunt.
    »Ja! Soldat! Ein faszinierender Beruf, in dem man sich noch vor kaum fünfzig Jahren auf ehrenvolle Weise seinen Lebensunterhalt verdienen konnte!«
    »Es sei denn, man verlor dieses Leben auf noch ehrenvollere Weise«, entgegnete Quinsonnas. »Nun, mit dieser Laufbahn ist es vorbei, denn es gibt keine Armee mehr, außer man wird Gendarm. Zu einer anderen Zeit wäre Jacques in eine Militärakademie eingetreten oder hätte sich als Freiwilliger verpflichtet, und da wäre er, siegreich und besiegt, General geworden wie ein Turenne oder Kaiser wie ein Bonaparte! Aber, mein hochverehrter Offizier, darauf heißt es nun verzichten.«
    »Pah! Wer weiß!« erwiderte Jacques. »Frankreich, England, Rußland, Italien haben ihre Soldaten entlassen, das stimmt; im letzten Jahrhundert hatte man die Perfektion des Kriegsgeräts so weit getrieben, alles war so lächerlich geworden, daß Frankreich nur noch darüber lachen konnte …«
    »Und nachdem es gelacht hatte«, sagte Quinsonnas, »wurde es entwaffnet.«
    »Ja! Du Witzbold! Ich gebe zu, daß außer dem alten Österreich alle europäischen Nationen den Militärstaat abgeschafft haben! Aber hat man deshalb auch den allen Menschen angeborenen Kampfgeist und den allen Regierungen angeborenen Eroberungsgeist abgeschafft?«
    »Zweifellos,« entgegnete der Musiker.
    »Und warum?«
    »Weil der beste Grund für das Vorhandensein dieser Instinkte die Möglichkeit war, sie zu befriedigen! Weil nichts so sehr zum Kampf verleitet wie der bewaffnete Friede, gemäß einer Redewendung aus alter Zeit! Weil es, wenn du die Maler abschaffst, keine Malerei mehr gibt, die Bildhauer, keine Bildhauerei mehr, die Musiker, keine Musik mehr, und die Krieger, keinen Krieg mehr! Soldaten sind Künstler.«
    »Ja! Gewiß!« rief Michel. »Und anstatt meinen gräßlichen Beruf auszuüben, hätte ich mich lieber als Freiwilliger gemeldet.«
    »Aha! Du mischst dich auch ein, Knirps!« antwortete Quinsonnas. »Möchtest du vielleicht kämpfen?«
    »Kämpfen erhöht die Seele«, erwiderte Michel, »laut Stendhal, einem der großen Denker des vergangenen Jahrhunderts.«
    »Ja!« sagte der Pianist, doch er fügte hinzu: »Was für einen Geist braucht man, um

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