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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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sage ich.«
    Michel ließ sich auf die Tasten des Instrumentes fallen und brachte dadurch eine herzzerreißende Harmonie hervor.
    »Weißt du, was du da machst«, fragte ihn der Pianist.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung!«
    »Unschuldiger, du spielst eine moderne Harmonie.«
    »Wahrhaftig!« sagte Jacques.
    »Das ist ganz einfach ein Akkord der heutigen Zeit! Und das Schrecklichste ist, daß die Gelehrten unserer Tage es sich zur Aufgabe machen, ihn wissenschaftlich zu erklären! Früher einmal konnten nur ganz bestimmte Noten verbunden werden; doch inzwischen hat man sie miteinander versöhnt, und sie beißen sich nicht mehr! Dafür sind sie zu gut erzogen!«
    »Deswegen ist es aber um nichts weniger widerwärtig«, warf Jacques ein.
    »Was willst du, mein Freund, es ist zwangsläufig so weit gekommen; im vergangenen Jahrhundert hat ein gewisser Richard Wagner, eine Art Messias, den man nicht genug gekreuzigt hat, die Zukunftsmusik begründet, und wir erdulden sie; zu seiner Zeit wurde bereits die Melodie abgeschafft, er hielt es für angebracht, auch die Harmonie vor die Tür zu setzen, und das Haus ist leer geblieben.«
    »Aber«, sagte Michel, »das ist doch so, als würde man ohne Umriß oder Farbe malen.«
    »Genau«, antwortete Quinsonnas. »Du sprichst von der Malerei, aber die Malerei ist keine französische Kunst; sie kommt aus Italien und Deutschland, und ich würde weniger leiden, wenn ich sie entweiht sähe! Wohingegen die Musik, die Tochter unseres Schoßes …« …«
    »Ich habe geglaubt«, sagte Jacques, »die Musik stamme aus Italien!«
    »Irrtum, mein Sohn; bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts hat die französische Musik Europa beherrscht; der Hugenotte Goudimel war Palestrinas Lehrmeister, und die ältesten wie die schlichtesten Melodien sind gallischen Ursprungs.«
    »Und so weit ist es nun mit uns gekommen«, sagte Michel.
    »Ja, mein Sohn; unter dem Vorwand, neue Ausdrucksformen zu suchen, besteht eine Partitur nur mehr aus einer einzigen, langen, endlos ausgehaltenen Phrase. In der Oper beginnt sie um acht Uhr abends und endet um zehn vor zwölf; wenn sie auch nur fünf Minuten länger dauert, kostet sie die Direktion eine Strafe und doppelte Gebühren für die Aufsicht!«
    »Und das geht ohne Protest durch?«
    »Mein Sohn, man läßt sich die Musik nicht mehr auf der Zunge zergehen, man schlingt sie hinunter! Ein paar Künstler haben dagegen gekämpft, dein Vater gehörte zu ihnen; doch seit seinem Tod ist keine einzige Note mehr geschrieben worden, die diesen Namen verdiente! Entweder müssen wir die ekelerregende
Melodie des Urwalds
über uns ergehen lassen, die geistlos, langatmig und verschwommen ist, oder man führt ein harmonisches Getöse in der Art jenes ergreifenden Beispiels auf, das du vorhin, als du dich auf das Klavier gesetzt hast, für uns zum besten gabst.«
    »Traurig!« meinte Michel.
    »Gräßlich«, antwortete Jacques.
    »Überdies, liebe Freunde«, fuhr Quinsonnas fort, »habt ihr sicherlich bemerkt, wie große Ohren wir haben!«
    »Nein«, entgegnete Jacques.
    »Na schön! Dann vergleiche sie mit den antiken Ohren und den Ohren des Mittelalters, miß nach und du wirst erschrecken! Die Ohren wachsen in dem Maße, wie die menschliche Größe abnimmt: hübsch wird das eines Tages aussehen! Nun denn, meine Freunde, die Naturwissenschaftler haben die Ursache für diese Entartung von weit hergeholt! Der Musik verdanken wir diese Lappen; wir leben in einem Jahrhundert zusammengeschrumpfter Trommelfelle und eines verkümmerten Gehörsinns. Ihr versteht wohl, daß man sich nicht ungestraft ein Jahrhundert lang Verdi oder Wagner in die Ohren träufelt, ohne daß dadurch das Gehörorgan Schaden nimmt.«
    »Dieser Teufelskerl Quinsonnas ist ungeheuerlich«, sagte Jacques.
    »Aber trotzdem«, widersprach Michel, »werden die alten Meisterwerke in der Oper noch gespielt.«
    »Das weiß ich«, entgegnete Quinsonnas; »es ist sogar die Rede davon, den
Orpheus in der Unterwelt
von Offenbach wiederaufzunehmen, mit den Rezitativen, die Gounod in dieses Meisterwerk eingebaut hat, und es ist möglich, daß damit ein wenig Geld hereinkommt, wegen des Balletts! Was dieses aufgeklärte Publikum braucht, liebe Freunde, das ist ein wenig Tanz! Wenn man sich vorstellt, daß ein zwanzig Millionen teures Bauwerk errichtet wurde, nur damit in ihm Kunstspringerinnen herumturnen, dann bekommt man wirklich Lust, von einem dieser Geschöpfe geboren worden zu sein!
Die Hugenotten
wurden auf einen

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