Paris im 20. Jahrhundert
aber die Theater waren ihm wegen ihrer Verträge mit dem
Großen Dramatischen Depot
verschlossen; der unverstandene Dichter veröffentlichte also auf eigene Kosten irgendeine schöne Komödie, die niemand las, und sie wurde die Beute jener kleinen Lebewesen aus der Gattung der Entomozoen, welche die Gebildetsten ihrer Zeit gewesen sein müssen, falls sie alles lasen, was man ihnen zu fressen gab.
So lenkte auch Michel Dufrénoy, das Empfehlungsschreiben in der Hand, seine Schritte zum
Großen Depot,
welches per Erlaß als gemeinnützige Einrichtung anerkannt war.
Die Büroräume der Gesellschaft lagen in der Rue Neuve-Palestro, und waren in einer alten, aufgelassenen Kaserne untergebracht.
Michel wurde zum Direktor vorgelassen.
Dieser war ein Mann von größter Ernsthaftigkeit, ganz und gar durchdrungen von der Wichtigkeit seiner Ämter; er lachte niemals, auch bei den gelungensten Aussprüchen in seinen Vaudevilles verzog er keine Miene; deshalb bezeichnete man ihn als bombensicher; seine Angestellten warfen ihm vor, er habe einen etwas militärischen Führungsstil; aber er hatte mit so vielen Leuten zu tun! Mit Lustspieldichtern, Dramatikern, Verfassern von Vaudevilles, Librettisten, ohne die zweihundert Beamten aus dem Abschreibbüro und die Schar der Claqueure mitzuzählen.
Denn diese wurden den Theatern von der Geschäftsleitung je nach Art der aufgeführten Stücke mitgeliefert; diese überaus disziplinierten Herren studierten bei gelehrten Professoren die heikle Kunst des Beifallklatschens und die Palette der feinen Unterschiede.
Michel überreichte ihm Quinsonnas’ Brief. Der Direktor las ihn von oben herab und sagte:
»Monsieur, Ihr Förderer ist mir wohlbekannt, und ich wäre entzückt, ihm in dieser Angelegenheit einen Gefallen zu erweisen; er spricht von Ihren literarischen Fähigkeiten.«
»Monsieur«, antwortete der junge Mann bescheiden, »ich habe noch nichts geschaffen.«
»Um so besser, das ist in unseren Augen ein Befähigungsnachweis«, antwortete der Direktor.
»Aber ich habe ein paar neue Ideen.«
»Nicht nötig, Monsieur, auf Neuheiten legen wir keinerlei Wert; hier muß jede Persönlichkeit verschwinden; Sie werden mit einem riesigen Ensemble verschmelzen müssen, das mittelmäßige Werke hervorbringt. Allein, ich kann Ihretwegen die bestehenden Vorschriften nicht umgehen; Sie werden eine Prüfung ablegen müssen, um aufgenommen zu werden.«
»Eine Prüfung«, sagte Michel erstaunt.
»Ja. Eine schriftliche Arbeit.«
»Gut, Monsieur, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
»Glauben Sie denn, schon heute bereit zu sein?«
»Wann Sie es wünschen, Herr Direktor.«
»Also sofort.«
Der Direktor erteilte entsprechende Anweisungen, und bald wurde Michel mit Feder, Papier, Tinte und einem Thema in ein Zimmer gesetzt. Dann ließ man ihn allein!
Er war nicht wenig erstaunt! Denn er hatte damit gerechnet, ein Stück Geschichte zu behandeln, irgendein Produkt der dramatischen Kunst zusammenzufassen, irgendein Meisterwerk aus dem alten Repertoire zu untersuchen. Was für ein Kind er doch war!
Er mußte für eine vorgegebene Situation einen Knalleffekt, ein kunstgerecht aufgebautes Couplet inklusive Pointe und einen Kalauer mit Wortspielen erfinden!
Er nahm seinen Mut in beide Hände und strengte sich an, so gut er konnte.
Alles in allem war seine Arbeit schwach und unvollständig; die Fingerfertigkeit, die
Pranke,
wie man noch zu sagen pflegte, fehlte ihm, der Knalleffekt ließ zu wünschen übrig, das Couplet war zu poetisch für ein Vaudeville und der Kalauer völlig mißlungen.
Dank seinem Förderer wurde er dennoch mit einem Gehalt von achtzehnhundert Franc aufgenommen; und da sein Knalleffekt der am wenigsten schwache Teil seiner Prüfung gewesen war, wurde er in der Abteilung Komödie untergebracht.
Das
Große Dramatische Depot
besaß eine ganz wundervolle Organisation.
Es bestand aus fünf großen Abteilungen:
1. anspruchsvolle Komödie und Genrestück.
2. Vaudeville im eigentlichen Sinn.
3. historisches und modernes Schauspiel.
4. Oper und Opera buffa.
5. Revue, Märchendrama und offizielles Gelegenheitsstück.
Die Tragödie war und blieb verbannt.
Jede Abteilung besaß fachmännische Angestellte; ihre Nomenklatur wird nach und nach die Arbeitsweise dieser bedeutenden Einrichtung erklären, in der alles geplant, angeordnet, vorgeschrieben war.
In sechsunddreißig Stunden konnte ein Genrestück oder eine Revue zum Jahreswechsel geliefert werden.
Michel bekam also sein
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