Paris im 20. Jahrhundert
Onkel.
»Schließlich«, antwortete Quinsonnas, »kam er aus der Auvergne. Im 20. Jahrhundert gibt es also keine Malerei mehr und keine Maler. Gibt es wenigstens noch Bildhauer? Ebensowenig, seit man mitten im Hof des Louvre die Muse der Industrie aufgestellt hat: eine feiste Megäre, die auf einer Maschinenwalze hockt, einen Viadukt auf ihren Knien hält, mit einer Hand pumpt, sich mit der anderen Luft zufächelt, eine Kette aus kleinen Lokomotiven um den Hals und im Haarknoten einen Blitzableiter!«
»Wahrhaftig! Dieses Meisterwerk werde ich mir anschauen«, sagte Monsieur Huguenin.
»Es lohnt sich«, antwortete Quinsonnas. »Also auch keine Bildhauer mehr! Gibt es denn Musiker? Meine Meinung zu diesem Thema kennst du, Michel! Willst du dich der Literatur widmen? Wer liest denn Romane, nicht einmal diejenigen, die sie schreiben, wenn ich nach ihrem Stil urteile! Nein! All das ist vorbei, vergangen, dahingegangen!«
»Aber schließlich«, antwortete Michel, »gibt es neben den Künsten doch auch die mit ihnen verwandten Berufe!«
»Ach, ja! Früher einmal, da konnte man Journalist werden, zugegeben; das war gut in einer Zeit, in der es noch ein Bürgertum gab, das an die Zeitungen glaubte und Politik machte! Aber wer befaßt sich noch mit Politik? Im Ausland? Nein! Der Krieg ist unmöglich geworden und die Diplomatie aus der Mode gekommen! Im Inland? Vollkommene Ruhe! Es gibt in Frankreich keine Parteien mehr: Die Orleanisten treiben Handel, und die Republikaner stecken in der Industrie; man zählt gerade noch ein paar Legitimisten, die sich den Bourbonen von Neapel angeschlossen haben und eine kleine Gazette unterhalten, in der sie schmachten können! Die Regierung macht ihre Geschäfte wie ein guter Kaufmann und zahlt regelmäßig ihre Wechsel; man glaubt sogar, daß sie dieses Jahr eine Dividende ausschütten wird! Die Wahlen reißen niemanden mehr mit; die Abgeordnetensöhne folgen auf die Abgeordnetenväter und üben in aller Ruhe ihr Handwerk als Gesetzgeber aus, ohne dabei viel Lärm zu machen, wie brave Kinder, die in ihrem Zimmer arbeiten! Man könnte wirklich meinen,
Kandidat
komme von dem Wort
candide
1 ! Wenn die Dinge so liegen, wozu soll dann der Journalismus noch gut sein? Zu nichts!«
»Das alles ist leider Gottes wahr«, antwortete Onkel Huguenin, »der Journalismus hat seine Zeit abgesessen.«
»Ja! Wie ein aus Fontevrault oder aus Melun entlassener Sträfling; und er wird nicht noch einmal anfangen. Vor hundert Jahren wurde Mißbrauch mit ihm getrieben, und wir erdulden die Strafe; damals las fast niemand, aber jeder schrieb; um 1900 belief sich in Frankreich die Anzahl der Zeitungen, politisch oder nicht, illustriert oder nicht, auf sechzigtausend; um die Landbevölkerung zu bilden, hat man sie in allen Dialekten abgefaßt, in Pikardisch, Baskisch, Bretonisch, Arabisch! Ja, meine Herren, es gab eine arabische Zeitung, den
Wachposten der Sahara,
und die Spaßvögel jener Tage nannten sie
ein Höckerblatt!
Nun, diese ausufernde Zeitungssucht hat bald zum Tod des Journalismus geführt, und zwar aus dem einfachen Grund, daß es mehr Autoren gab als Leser!«
»In jener Zeit«, antwortete Onkel Huguenin, »gab es auch das kleine Blättchen, mit dem man sich mehr schlecht als recht über Wasser hielt.«
»Gewiß«, entgegnete Quinsonnas, »aber mit all seinen guten Eigenschaften erging es ihm wie der Stute Rolands; die Burschen, von denen diese Blättchen verfaßt wurden, haben den Scharfsinn dermaßen ausgebeutet, daß die Mine bald erschöpft war; kein Mensch von denen, die damals noch lasen, verstand mehr etwas; übrigens haben diese liebenswerten Schriftsteller einander schließlich mehr oder weniger umgebracht, denn niemals war der Verbrauch an Ohrfeigen und Stockhieben größer; man mußte einen breiten Rücken haben und runde Wangen, um all dem gewachsen zu sein. Die Maßlosigkeit zog die Katastrophe nach sich, und der kleine Journalismus fiel wie der große dem Vergessen anheim.«
»Aber«, fragte Michel, »gab es nicht auch die Kritik, die ihr Personal recht gut ernährte?«
»Das will ich wohl meinen!« antwortete Quinsonnas. »Sie hatte ihre Fürsten! Es gab Leute unter ihnen, die reichlich Talent besaßen und es reichlich verkauften! Man mußte bei den hohen Herren antichambrieren, und einige von ihnen verschmähten es nicht, Tarife für ihre Lobreden festzusetzen, man zahlte und zahlte, bis ein unerwartetes Ereignis die Hohenpriester des Verrisses endgültig ausrottete.«
»Und
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