Paris im 20. Jahrhundert
welches Ereignis?« fragte Michel.
»Die Anwendung eines bestimmten Gesetzesartikels in großem Maßstab. Da jede Person, die in einem Artikel genannt wurde, das Recht hatte, an derselben Stelle und mit derselben Anzahl von Zeilen zu antworten, begannen die Autoren von Theaterstücken, Romanen, philosophischen Werken oder Geschichtsbüchern, ihren Kritikern massenhaft Paroli zu bieten; jeder hatte Anrecht auf soundso viele Wörter und nutzte sein Recht; die Zeitungen wollten zunächst Widerstand leisten, es kam zum Prozeß; sie verloren; um den Einsprüchen nachzukommen, vergrößerten sie ihr Format; doch die Erfinder irgendwelcher Maschinen mischten sich ein; man konnte über nichts sprechen, ohne nicht sogleich eine Antwort zu provozieren, die gedruckt werden mußte; und es wurde ein solcher Mißbrauch getrieben, daß letztendlich die Kritik tot auf der Strecke blieb. Mit ihr verschwand diese letzte Einnahmequelle, die der Journalismus darstellte.«
»Aber was soll man dann tun?« sagte Onkel Huguenin.
»Was tun? Das ist immer die Frage, außer man ist Arzt, wenn man mit Industrie, Handel und Finanz nichts zu schaffen haben will! Und selbst dann, der Teufel soll mich holen! Ich glaube, die Krankheiten nutzen sich ab, und wenn die Fakultät keine neuen züchtet, dann steht sie bald ohne Arbeit da! Ich verliere kein Wort über die Advokatur; man führt keinen Rechtsstreit mehr, man schließt einen Vergleich; eine schlechte Einigung wird einem guten Prozeß vorgezogen; das geht schneller und ist kaufmännischer!«
»Ich denke gerade an etwas«, sagte der Onkel, »es gibt doch noch die Börsenblätter!«
»Ja«, antwortete Quinsonnas; »aber würde Michel sich denn auf so etwas einlassen wollen: Börsenberichterstatter werden, die Livree eines Casmodage oder eines Boutardin tragen, unselige Satzperioden über Fett, Raps oder die drei Prozent drechseln, sich jeden Tag in flagranti bei einem Fehler ertappen lassen, die Ereignisse mit aller Dreistigkeit prophezeien – ausgehend von dem Grundsatz, daß der Prophet, wenn sich die Prophezeiung nicht erfüllt, in Vergessenheit gerät, und daß er, wenn sie sich erfüllt, lauthals mit seinem Scharfblick prahlen wird – und schließlich Konkurrenzgesellschaften gegen bares Geld zum größten Nutzen eines Bankiers vernichten, was noch minderwertiger ist, als seine Büroräume zu schrubben! Wird Michel in all das einwilligen?«
»Nein! Bestimmt nicht!«
»Dann sehe ich nur mehr eine Stelle bei der Regierung, also Beamter zu werden; es gibt in Frankreich zehn Millionen Beamte; rechne dir deine Aufstiegschancen aus und stell dich hinten an!«
»Ehrlich gesagt«, meinte der Onkel, »das wäre vielleicht das Vernünftigste.«
»Vernünftig, aber hoffnungslos«, entgegnete der junge Mann.
»Also, Michel?«
»Bei seiner Durchsicht der ernährenden Berufe«, antwortete dieser, »hat Quinsonnas immerhin einen vergessen.«
»Und welchen«, fragte der Pianist.
»Bühnenautor.«
»Aha! Du willst zum Theater?«
»Warum nicht? Kann einen das Theater denn nicht ernähren, um deine gräßliche Sprache zu verwenden?«
»Fürwahr, Michel«, antwortete Quinsonnas, »statt daß ich dir sage, was ich davon halte, solltest du lieber selbst hineinschnuppern. Ich werde dir zu einem Empfehlungsschreiben an den Direktor des
Dramatischen
Depots
verhelfen; und dann kannst du es ausprobieren!«
»Wann denn?«
»Gleich morgen.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Ist das ernst gemeint?« fragte Onkel Huguenin.
»Ganz ernst«, antwortete Quinsonnas; »es kann immerhin sein, daß er es schafft; auf jeden Fall ist es, in sechs Monaten genau wie jetzt, noch früh genug, in den Staatsdienst zu treten.«
»Nun gut, Michel, wir werden dir auf die Finger schauen. Aber Sie, Monsieur Quinsonnas, Sie teilen ja das Unglück dieses Jungen. Gestatten Sie mir zu fragen, was Sie zu tun gedenken?«
»Oh! Monsieur Huguenin«, antwortete der Pianist, »machen Sie sich keine Sorgen um mich. Michel weiß, daß ich einen großen Plan verfolge.«
»Ja«, erwiderte der junge Mann, »er will sein Jahrhundert in Erstaunen versetzen.«
»Ihr Jahrhundert in Erstaunen versetzen.«
»So lautet das edle Ziel meines Lebens; ich glaube, meine Sache ist unter Dach und Fach, und für’s erste will ich sie im Ausland erproben! Denn dort wird, wie Sie wissen, der große Ruhm begründet!«
»Du gehst fort«, sagte Michel.
»In ein paar Monaten«, antwortete Quinsonnas, »aber ich werde schnell
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