Pariser Bilder
starb, die Wände seines Kerkers anstarren, in dem der Bewegungslose vielleicht sein Grab finden würde. Erst in der Frühe des zweiten Tages, als ein altes englisches Fräulein dem Retter zweihundert Franken versprach, fand sich eine Leiter, die lang genug war, um damit auf den Grund der Zisterne zu gelangen, und ein Mann, der gewinnsüchtig oder unglücklich genug war, um nackt in das faulige Wasser hinabzusteigen, aus der er auf seiner Schulter den halbtoten Vogel zur Sonne emporbrachte.
Gebet des Schwanes: »Ich bin nicht für diese Kloake geschaffen, ich kann nicht in dieser Schlammgrube bleiben. Ich habe Flügel, die ich hinter mir spüre, kranke, lahme, bebende, stolze, verwendungslose Flügel. Sie sind nicht zu schwach, um mich in die Luf zu heben. Im Gegenteil, eben ihre Größe ist mir hinderlich, und mein Gewicht kettet mich an den Abgrund, in den ich gestürzt bin. Dir ist es ein leichtes, mir Hilfe zu schaffen anstelle der Flügel, die du mir gegeben hast zu deiner Verherrlichung. Herr, gedenke nur dessen, daß ich der Schwan bin.«
Die Handschuhe
Im Autobus trägt ein ärmliches Kind die Handschuhe vom Tag seiner Erstkommunion, was seinen Hut, seinen Mantel und seine Alltagsbewegungen nur noch anmutsloser erscheinen läßt.
Sein Tyrann von Mutter neben ihm ahnt die Gedanken der Mitfahrenden, und plötzlich sagt sie, ins Schwarze treffend:
»Nicht einmal zum Schlafen kannst du deine Handschuhe ausziehen?« Wo doch sie es ist, die ihm jedesmal, wenn sie ausgehen, die Handschuhe anzubehalten befiehlt, bis sie wieder zu Hause sind.
Worauf das Kind einen seiner Handschuhe auszieht und den anderen anbehält; jetzt sieht es doppelt so unbeholfen aus, mit zwei weißen Handschuhen und einer schmutzigen Hand.
Zwei nackte Beine
Von meinem Bett aus sehe ich nur den Himmel und im Profil den Seitenflügel des Gebäudes, das ich bewohne. Diese Nacht nun (es war gegen zwei Uhr morgens) arbeitete ich noch im Liegen, als ich die Augen hob und vor mir, in Höhe des sechsten Stocks baumelnd, zwei nackte Beine gewahre. Ich fahre fort zu schreiben. Jetzt heben sie sich fast mühelos, schon stehen sie auf dem Balkongeländer des siebten Stocks, während zwei Hände sich ohne Hast an das vorkragende Dach klammern. Jetzt sieht man unverkennbar einen Mann die Dachrinne entlang sich fortbewegen. Er ist völlig unbekleidet. Ein Sprung, und er wird mitten in meinem Zimmer stehn. Ich rege keine Wimper. Vielleicht wird er halben Wegs einhalten, falls er die Gewohnheit haben sollte, in dieser einfachen Aufmachung und zu solcher Stunde seine Geliebte, meine Nachbarin, zu besuchen. Aber nein. Ohne Aufenthalt schwebt er an dem offenen Fenster vorbei. Um ihn besser zu beobachten, lösche ich das Licht. Jetzt muß er ins Leere abgestürzt sein, doch da hängt er schon wieder unversehrt vor dem gleichen Fenster, aus dem er ausgestiegen war. Ob er wohl ein Akrobat ist, der sich nächtlicherweile mit solchen Spaßen die Zeit vertreibt, oder vielleicht ein Einbrecher, ein leidenschaflicher Anhänger der Nacktkultur, oder ein Schlafwandler?
»Oh«, sagt mir die Hausmeisterin anderntags mit einen Anflug von Stolz in der Stimme, »das ist ›unser‹ Flieger, der nur etwas Luf schöpfen wollte.«
Der Kuß
Ein Mann und eine Frau holperten die Rue du Roide-Sicile entlang, jedes mit seinem Sack, bei dem einen voll Kartoffeln, bei dem andern voll Kastanien. Die Frau mochte etwa vierzig Jahre alt sein, der Mann dreißig. Der Sack mit Kastanien, den die Frau trug, war weniger schwer als der des Mannes, aber sie war auch weniger kräfig und, alle beide betrunken, schien sie es am meisten zu sein. Schon ihr Gang war ganz darauf eingerichtet, daß sie stürzte. Mit hochgereckter Nase schritt sie einher, auf den Absätzen stelzend, ohne die Knie zu beugen. Bald stolperte sie über ein geringfügiges Hindernis, fiel der Länge nach hin, und sämtliche Kastanien rollten über ihre Schulter in die Gosse. Ein anderer als der Mann wäre wütend geworden. Er lächelte. Sie lachte aus vollem Halse, und gleich schickten sie sich an, die Kastanien gemeinsam einzusammeln. Der Mann, der seinen Sack wieder geschultert hatte, wollte sich auch den ihren aufladen. Die Frau hätte doch an ihrer Trunkenheit schon genug; und so setzen sie ihren Weg fort, ohne ein Wort zu wechseln, sie immer die Nase in die Luf gereckt, ohne die Absätze zu heben, nur ein bißchen rascher, ein bißchen rascher als er; sie geht voraus. Beim zehnten Schritt ruf er sie an.
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