Partials 1 – Aufbruch
in
Händen halten.« Hardy deutete auf Kiras Papiere. »Wenn wir die Daten nicht
registrieren, ist das Kind noch sinnloser als ohnehin schon gestorben.«
Kira nickte wieder und richtete abwesend die Papiere in dem braunen
Umschlag ordentlich aus.
Die Oberschwester wandte sich ab, doch Kira tippte ihr auf die
Schulter, und als sie sich umdrehte, wagte Kira nicht, ihr in die Augen zu
sehen. »Entschuldigung, aber könnte Ariel die Kleine einen Moment lang halten,
wenn der Arzt fertig ist? Nur für einen Augenblick?«
Schwester Hardy seufzte. Hinter der strengen, berufsmäßigen Fassade
war die Müdigkeit zu erkennen. »Hören Sie zu, Kira, ich weiß genau, wie schnell
Sie die Ausbildung absolviert haben. Sie besitzen ganz sicher eine Begabung für
die Virologie und die RM -Analyse, aber diese
technischen Fähigkeiten sind nur die halbe Miete. Sie müssen emotional stabil
sein, sonst frisst Sie die Arbeit auf der Entbindungsstation auf. Sie sind
jetzt drei Wochen bei uns, und dies ist Ihr zehntes totes Kind. Für mich war es
das neunhundertzweiundachtzigste.« Sie hielt inne, das Schweigen dehnte sich länger,
als Kira erwartet hätte. »Sie müssen lernen loszulassen.«
Kira blickte zu Ariel, die von draußen weinend an die dicke
Glasscheibe klopfte. »Ich weiß, dass Sie viele Kinder verloren haben.« Kira
schluckte. »Aber für Ariel war es das erste.«
Die Oberschwester starrte Kira lange an, irgendwo tief in den Augen
regte sich etwas. »Sandy!«, rief sie schließlich.
Eine andere junge Schwester hob den Kopf und brachte den winzigen
toten Körper zur Tür.
»Wickeln Sie das Baby aus!«, ordnete Schwester Hardy an. »Die Mutter
darf es kurz halten.«
Eine Stunde später hatte Kira den Papierkram erledigt, gerade
rechtzeitig vor der öffentlichen Senatssitzung. Marcus begrüßte sie in der Lobby
mit einem Kuss, und die Anspannung der langen Nachtschicht fiel von ihr ab.
Marcus strahlte, und sie lächelte erschöpft zurück. Mit ihm war das Leben
leichter.
Sie verließen das Krankenhaus. Als das Sonnenlicht ihre müden Augen
blendete, blinzelte Kira. Das Krankenhaus war eine Bastion der Technik im Stadtzentrum
und unterschied sich so stark von den verfallenen Häusern und den überwucherten
Straßen, als wäre es ein außerirdisches Raumschiff. Natürlich war das
schlimmste Durcheinander längst aufgeräumt, aber die Zeichen des Zusammenbruchs
waren inzwischen, elf Jahre später, immer noch allenthalben zu erkennen:
Herrenlose Autos hatten sich in Verkaufsstände für Fisch und Gemüse verwandelt,
die Wiesen vor den Häusern dienten als Gärten und Hühnergehege. Diese Welt war
ein trauriger Abklatsch der früheren zivilisierten Welt, der Welt vor dem Zusammenbruch,
und nur noch einen Schritt von der Steinzeit entfernt. Die Solaranlage, die das
Krankenhaus mit Strom speiste, war ein Luxus, von dem der größte Teil von East
Meadow nur träumen konnte.
Kira versetzte einem Stein auf der Straße einen Tritt. »Ich glaube,
ich schaffe das nicht mehr.«
»Sollen wir eine Rikscha nehmen?«, bot Markus an. »Bis zur
Sporthalle ist es nicht mehr weit.«
»Ich meinte nicht das Laufen«, erwiderte Kira. »Ich meinte dieses … das Krankenhaus und die Kinder.« Sie erinnerte sich an die blutunterlaufenen
und unendlich müden Augen der Schwestern und an die bleichen Gesichter. »Weißt
du, wie viele Babys ich sterben sah?«, fragte sie ihn leise. »Wie viele vor
meinen Augen verendet sind?«
Marcus nahm ihre Hand. »Es ist doch nicht deine Schuld.«
»Spielt es eine Rolle, wessen Schuld es ist?«, gab Kira zurück. »Sie
sind tot, nur das ist wichtig.«
»Seit dem Zusammenbruch hat kein einziges Kind überlebt«, sagte
Marcus. »Kein einziges. Du arbeitest dort seit gerade drei Wochen als
Praktikantin. Wenn alle diese Ärzte und Forscher nicht weiterkommen, solltest
du dir keine Vorwürfe machen.«
Kira blieb stehen und starrte ihn an. Das konnte doch nicht sein
Ernst sein. »Und du meinst, damit geht es mir besser? Ich fühle mich ganz bestimmt
nicht besser, wenn du mir erzählst, das Leben der Kinder sei nicht zu retten.«
»Du weißt doch, dass ich es anders meine«, antwortete Marcus. »Ich
sage nur, dass du nicht persönlich daran schuld bist. RM tötet die Kinder, nicht Kira Walker.«
Kira blickte zum Turnpike hinüber. »So kann man das natürlich
sehen.«
Als sie sich der Sporthalle näherten, wurde das Gedränge dichter.
Vielleicht waren sogar alle Plätze besetzt, was schon seit Monaten nicht
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