Partitur des Todes
sie.
«Ich weiß nicht», sagte er, «vielleicht ja, vielleicht auch nicht.»
«Du kennst meine Meinung», sagte sie.
«Ja», erwiderte er, «ich kenne deine Meinung.»
«Und was ist in deiner Tüte?»
«Ein Stück Schinken. Für dich.»
«Ah, mein kleiner Georges, du bist so gut zu mir. Wenn ich dich nicht hätte…»
«Was dann?»
«Dann hätte ich wohl einen anderen.»
Zwei
Etwa zur selben Zeit stand im Osten von Paris eine junge Frau am gekippten Schlafzimmerfenster einer riesigenAltbauwohnung und schaute hinaus auf dieAvenue Raphael und den kleinen Park, wo die Kindermädchen auf den Bänken saßen, miteinander plauderten und gelegentlich ihre Zöglinge ermahnten. Valerie war siebenundzwanzig Jahre alt, unverheiratet, kinderlos und arbeitete für den Fernsehsender arte. Sie sah das Karussell mit den Pferden und Schwänen, das sich in der Morgensonne drehte, sah den Puppenspieler, der gerade seine hölzerne Kulisse aufbaute, und die beiden alten Damen, die ein Taxi herbeizuwinken versuchten.
Dann wandte sie sich um und warf einen raschen Blick ins Zimmer, wo Victor noch immer unter seiner Decke lag und schlief.
Valerie spürte, wie sich ihre Haut kräuselte, als die Gardine ihre nackten Beine streifte. Sie sah, wie eine große Limousine am Rand des Parks anhielt, ein uniformierter Chauffeur ausstieg und zwei Kindern die Tür öffnete. Und mit einem Mal fühlte sie sich so fremd, wie sie sich nie zuvor gefühlt hatte. Es war nicht ihr Viertel, auf das sie schaute; es war nicht ihr Bett, in dem sie aufgewacht war; und es war nicht ihr Mann, mit dem sie hier die Nacht verbracht hatte. Sie dachte kurz nach, dann fasste sie einen Entschluss.
«Ich gehe», sagte sie.
Und weil Victor nicht reagierte, wiederholte sie ihre Worte noch einmal lauter: «Ich gehe, hast du gehört?»
Unwillig drehte sich der schlafende Victor auf die andere Seite und verkroch sich noch tiefer unter seine Decke.
«Hör mir zu, Idiot. Ich habe gesagt: Ich gehe.»
Ohne sie anzusehen, streckte erseinenArm nach ihr aus: «Komm», murmelte er. «Komm zurück ins Bett. Wir haben noch Zeit.»
Sie raffte ihre Sachen zusammen, die sie am Vorabend neben dem Bett hatte fallen lassen, ging ins Badezimmer, zog sich an, nahm ihre Handtasche von der Garderobe und schlug die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Barfuß lief sie die breiten Marmortreppen der drei Stockwerke hinab. Erst als sie im Erdgeschoss angelangt war, zog sie ihre Schuhe an. Neugierig äugte der Concierge aus seiner Loge.
«Bonjour, mein Herr», sagte Valerie und lächelte dem Pförtner zu.
Der Mann nickte stumm.
«Wir kennen uns nicht», fuhr sie fort. «Als ich mich gestern Abend gemeinsam mit Monsieur Foret an Ihnen vorbeischlich, waren Sie wohl gerade ein wenig eingenickt… Nein, nein, niemand macht Ihnen einen Vorwurf.Aber tun Sie mir doch einen Gefallen. Bestellen Sie bitte Madame, wenn sie heute Nachmittag von ihrer Reise zurückkommt, einen schönen Gruß. Unbekannterweise. Sagen Sie ihr, ich hätte in ihrem Bett ganz miserabel geschlafen, und… dass es gewiss nicht wieder vorkommt.»
Der Concierge schaute sie unverwandt an. Sie zwinkerte ihm zu, wünschte ihm einen schönen Tag und verließ das Haus. Beflügelt von ihrem eigenen Mut, lief sie, ohne sich umzuschauen, auf die Fahrbahn. Jemand hupte, sie hörte das Kreischen von Bremsen, dann starrte sie durch die Windschutzscheibe den fluchenden Fahrer an, dessen Wagen nur wenige Zentimeter vor ihr zum Stehen gekommen war.Als sie die andere Straßenseite erreicht hatte und auf dem Bürgersteig stand, zitterte sie. Valerie ging in den Park und setzte sich auf eine freie Bank. Sie kramte in ihrer Tasche nach Zigaretten, musste aber feststellen, dass sie die Packung auf Sandrine Forets Nachttisch hatte liegen lassen. Valerie ließ ihre Hände |19| auf die Knie sinken, starrte minutenlang auf den Boden, dann begann sie zu weinen.
Vor zwei Jahren, sie hatte gerade ihr Studium beendet und begonnen, für ein paar kleine Zeitungen zu schreiben, hatte sie zum ersten Mal eines von Victors Konzerten besucht. Den Bleistift in der Hand, den Block auf den Knien, hatte sie in der ersten Reihe gesessen und ihn unverwandt angestarrt. Obwohl seit seiner Kindheit im Geschäft, galt er noch immer als hoffnungsvoller Nachwuchspianist. Damals war kaum ein Artikel überihn erschienen, in dem nicht von seinem «jungenhaften Charme» und dem«gewinnenden Lächeln» die Rede war, auch wenn längst neue Wunderkinder die Bühne
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