Pas de deux
keine vierzehn Tage vorher lernen lassen, und wir schleppten Hemingway seit bald sechs Jahren mit uns herum, sie kam aus heiterem Himmel immer wieder darauf zurück und hatte uns kein Detail erspart. Zudem behielt ich mühelos im Gedächtnis, was mir gefiel, ich hätte ihnen auch die letzte Seite des Ulysses oder Les Poètes de sept ans zitieren können. Es störte mich nicht, ihr einen Gefallen zu tun und mich ihren Albereien zu beugen, zumindest solange wir unter uns waren. Es machte mir sogar ein wenig Spaß, ein bißchen mitzuquatschen, vor allem vor den vieren da. Und auch vor Rebecca und Corinne. Konnte man mit diesen Hohlköpfen über Literatur diskutieren? Machten sie nicht große Augen, wenn sie ihre Nase in unsere literarischen Gespräche steckten? Stöhnten sie nicht, wenn sie sich wieder entfernten und sich auf irgendeinen Stuß stürzten? Inzwischen sah ich sie, wie sie waren, ich war über das Alter hinaus, mich blenden zu lassen, für bare Münze zu nehmen, daß ein Erwachsener immer mehr wußte als unsereins. Sobald sie mich in die Enge zu treiben suchten, warf ich ihnen einen Schriftsteller zwischen die Beine, von dem sie noch nie etwas gehört hatten, und ihre Gesichtszüge entgleisten. Oder sie beschimpften mich als eingebildeten Fatzke, und ich antwortete ihnen: »Die Ignoranz ist die Nacht des Geistes, und diese Nacht hat weder Mond noch Sterne.« Oder etwas in der Art. Ich konnte unsympathisch sein, wenn ich wollte.
Nun, diesmal – wohl in Anbetracht der traurigen Ereignisse, die Alice so erschütterten – schätzten sie meine Nummer, obwohl sie kein Wort verstanden hatten. Jérémie wog das Buch in der Hand und verzog das Gesicht. Er bat mich, ihm den Inhalt zu erzählen, aber ich rannte bereits die Treppe hinauf.
Abgesehen davon, daß mich die Literatur ohnehin fesselte, hatte ich auch sonst allen Grund, Bücher zu lesen. Das war die einzige Möglichkeit, noch mit Edith in Kontakt zu bleiben, das einzige, was wir noch gemeinsam hatten. Ich war noch keine achtzehn, und David Garowski stolze fünfundzwanzig. Es war ein Glück, daß er in seinem Leben höchstens ein Dutzend Bücher gelesen hatte, sonst hätte ich sie vollends verloren. Andererseits war in dem Milieu, in dem wir verkehrten, ständig von Kunst die Rede, und Ahnung von Literatur zu haben erlaubte es einem, von Zeit zu Zeit ein Wort mitzureden. Das gefiel den Mädchen. Als ich eines Abends mit irgendeinem Blödmann wegen Salinger aneinandergeraten war, hatte Edith ihre Hand in meine geschoben, und den Typen, den hatte ich vernichtet. David Garowski hätte diese Schlacht nicht schlagen können. Salinger kannte er nicht.
Leider hatte er andere Pfeile im Köcher.
Ich zog mich schnellstens um. Georges kam herein und setzte sich auf mein Bett, während ich meine Tasche packte. Es gefiel ihm nicht, wenn unsere Ausflüge den Rahmen eines Abends sprengten, aber meine Mutter hatte es übernommen, ihn daran zu erinnern, daß wir keine Kinder mehr waren. Wenn er ihr da auch zustimmte, sah man doch, daß er nicht begeistert war. Er fragte mich mit gleichgültiger Miene, ob wir nachts fahren wollten, ob es dort eine Telefonnummer gebe, unter der wir erreichbar seien, ob wir übermorgen abend wieder zurück seien. Dann sagte er:
»Ich vertraue dir die beiden an, Henri-John …«
Er verblüffte mich immer wieder. Manchmal predigte er mir Dinge wie: »Weißt du, im Grunde reduziert sich das Leben auf ein paar Frauen und zwei, drei Augenblicke des Nachdenkens …«, und dann schaute ich ihn staunend an. Oder er war zum Kotzen, wie in diesem Moment, und ging ohne jedes Licht in den Tiefflug über. Ich verstand nicht, warum er sich Sorgen machte, ich fand das beschissen.
Im Flur begegnete ich meiner Mutter, und ich küßte sie, bevor ich losfuhr. Sie verschonte mich wenigstens mit guten Ratschlägen. Sie streckte lediglich eine Hand aus, um meinen Kragen zu richten, und blickte mich ganz kurz an. Die kürzesten Blicke sind die besten.
Edith und Oli erwarteten mich in Davids Atelier. Letzterer überarbeitete gerade eine Leinwand, die auf dem Boden ausgerollt war, und die beiden anderen stiegen vom Zwischengeschoß herab. Wir waren nicht gerade früh dran. Der Nachmittag ging zu Ende, und vor uns lag eine Fahrt von mindestens zwei Stunden.
»Immer mit der Ruhe. Wir haben noch das ganze Leben vor uns …« erklärte David und wischte sich die Hände ab.
Das war eine seiner Lieblingsbemerkungen. Tiefe und Schlichtheit.
Das Mädchen, das diesen
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