Pastetenlust
Gewaltanwendung“, lautete sein knapper Kommentar. „Den Rest muss die Obduktion
feststellen.“
„Können Sie schon eine Aussage zum Zeitpunkt des Todes
machen?“, wollte Wallner von dem etwas schusselig wirkenden Aeskulapjünger
wissen.
„Schwer zu sagen“, der Arzt kratzte sich am Kopf, „unter
Berücksichtigung der Nachttemperatur würde ich auf 6 bis 8 Stunden tippen.“
Das würde zwischen halb zwölf und halb zwei Uhr morgens
bedeuten, überlegte Palinski. Wie spät war es bloß gewesen, als er die Blondine
mit dem Mann schmusen gesehen hatte? Wilma war mit ihrer Klasse auf einer
Studienreise in Paris. Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen und mit den
Kindern die Übertragung der Viktor-Verleihung im Fernsehen verfolgt. Die war
kurz nach 23 Uhr zu Ende gewesen. Während des nachfolgenden Krimis war er
eingeschlafen und erst einige Zeit später wieder aufgewacht. Die Kinder waren
inzwischen zu Bett gegangen und er saß alleine vor dem noch immer laufenden
TV-Gerät. Welche Sendung war bei seinem Aufwachen bloß gelaufen? Irgendeine
Wiederholung aus dem Tagesprogramm mit drei alten Frauen, die sich gegenseitig
auf die Nerven gingen. Wenn es ihm gelänge, festzustellen, um welche Sendung es
sich gehandelt hatte, ließ sich der nachfolgende zeitliche Ablauf zumindest
annäherungsweise rekonstruieren.
„Vielleicht kann ich einen Beitrag bei der Ermittlung des
Todeszeitpunktes leisten“, meinte er zu Wallner und berichtete ihm von seinen
nächtlichen Beobachtungen. Der hörte sehr aufmerksam zu und bat Palinski dann,
das Fernsehprogramm zu Rate zu ziehen.
Inzwischen war die Tatortgruppe soweit, dass der Leichnam
bewegt werden durfte. Auf ein Kommando Wallners hin hoben die beiden
Streifenpolizisten den Toten an und versuchten, ihn in eine sitzende Position
zu bringen. Umständlich rückten sie den mindestens 80 Kilogramm schweren Körper
an die Lehne der Bank und brachten den nach vorne gesunkenen Kopf in eine Lage,
die es erlaubte, das Gesicht des Toten zu sehen.
Als Palinski bemerkte, wie
die volle Haarpracht des Mannes dabei ins Rutschen kam und dann zu Boden fiel,
fühlte er sich wie in einem jener Filme, die man sich besser nicht vor dem
Schlafengehen ansieht. Wallner war schneller und hatte die Perücke bereits in
der Hand, bevor sie den Boden erreichte. Das nunmehr nur durch einen modischen
Kurzhaarschnitt der mittelbraunen Haare begrenzte Gesicht kam Palinski bekannt
vor, nur woher? „Nimm einmal die Brille ab“, forderte er seinen Freund auf.
„Ich bin sicher, dass es sich dabei um normales Fensterglas handelt.“ Wallner,
normalerweise nicht daran gewöhnt, von Zivilisten Anweisungen entgegenzunehmen,
folgte der Aufforderung widerspruchslos. Ein Blick durch die Gläser bestätigte
Palinskis Vermutung.
„Wieso hast du das gewusst?“, wollte der Kriminalist, der
nicht an Hellseherei glaubte, wissen.
„Ich weiß noch mehr“, nachdem die Brille als letztes
störendes Beiwerk beseitigt war, hatte Palinski den Toten sofort erkannt. Die
wenigen Sekunden, die er aus seinem angeborenen Hang für Dramatik verstreichen
lassen wollte, brachten ihn aber um die Sensationsmeldung des Tages.
Denn mit „Jessas na, des is jo da Lettenberg“, war es
Palinskis neuer Liebling, der größere der beiden Streifenpolizisten, der die
Bombe platzen ließ.
„Ja, das ist Jürgen Lettenberg“, nicht ganz frei von Neid
klopfte Palinski dem Mann auf die Schulter. Der vergaß vor lauter Stolz ganz
auf den antrainierten Reflex, die körperliche Berührung als ›Angriff auf die
Staatsgewalt‹ anzusehen.
Mit der Frage „Wer ist Jürgen Lettenberg?“ stellte Wallner
seinen Ruf als chronischer Fernsehmuffel nachdrücklich unter Beweis. Kein
Wunder, der überzeugte Single hatte in seiner kargen Freizeit anderes und
besseres zu tun als sich schwachsinnige Sendungen und deren wiederholte Wiederholung
anzusehen. Er bevorzugte es, das Leben zu leben, nicht es zu beobachten.
„Lettenberg ist ein sehr beliebter deutscher Schauspieler und
hat gestern im Rahmen einer Fernsehgala den Goldenen Viktor als bester was
immer auch erhalten“, die Sparte, für die der Tote ausgezeichnet worden war,
wollte Palinski partout nicht einfallen.
„Na sicher nicht als beste Hauptdarstellerin“, kicherte einer
von Wallners Mitarbeitern, was ihm ein strenges „Lass den Blödsinn, Fritz“
eintrug.
Inzwischen hatte der Inspektor die Taschen von Lettenbergs
Anzug durchsucht,
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