Patentöchter
Vater manchmal Zettel, auf denen meine Mutter ihre Ängste oder politischen Zweifel notiert hatte. Sie war skeptischer, was die Folgen der Handelsbeziehungen betraf, durch die man sich auch in die Hände der neuen Partner begab. Die Ostpolitik beunruhigte sie.
Ich konnte diesen Auseinandersetzungen zunächst nur schweigend zuhören, denn 1970 war ich 13 Jahre alt. Mein stärkster Eindruck aus dieser Zeit bleibt die hohe Emotionalität, die mit all den Diskussionen einherging. Meine Eltern hatten auch einige stark links orientierte Freunde, ebenso gingen auch Familienmitglieder auf Demonstrationen, hatten konträre politische Meinungen. Es war laut. Die Diskussionen gingen meist bis spät in die Nacht, wenn ich längst versuchte, gegen die Gesprächsunruhe einzuschlafen.
Das Gymnasium, auf das ich in Oberursel ging, wurde Anfang der Siebzigerjahre in eine Gesamtschule umgewandelt. Diese Schule war das erste Experiment dieser Art, ein hessisches Vorzeigeprojekt, und sie galt als »linkeste Schule« Deutschlands. Davon bekam ich neben vielen eher harmlosen Diskussionen im Deutsch- und Sachkundeunterricht vor allem die optischen Phänomene mit. Jeans, Parka, Palästinenserschal waren der pflichtgemäße Dresscode, von dem ich nur die Jeans erfüllte. An den Wänden pappten die Aufforderungen zu Frankfurter Demonstrationen übereinander, deren friedlicher Charakter durch das Tragen von Armeehosen und Militärstoffen betont wurde. Stolz war man auf einen Hungerstreik im Schulhof, ich weiß gar nicht mehr, für welches Ziel. Heute richten sich die aus der Schule hervorgegangenen Rechtsanwälte und Unternehmer, die in der Wirtschaft und in anderen systemrelevanten Berufen Tätigen nach anderen Dresscodes, und statt um Hungerstreik kümmern sie sich jetzt um ihre Diät.
1977 lag die Schulzeit aber schon ein Jahr hinter mir.
Mitsuko begleitete mich in die Frankfurter Innenstadt, um Trauerkleidung zu kaufen. In der heißen, stickigen Luft des Bekleidungsgeschäftes fand ich plötzlich keinen Atem mehr, mein Kreislauf sackte ohnmachtsgleich zusammen, und ich musste lange zwischen den Kleiderständern auf dem Boden liegen bleiben. Trotz der gedämpften Beleuchtung wirkte alles grell und unwirklich.
Die Fenster des Ladens führten auf den Kaiserplatz. Dort waren wir in glücklichen Zeiten der Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz, dem Pianisten Maurizio Pollini, dem Schauspieler und Regisseur Valtr Taub nach den Theatervorstellungen auf der Straße begegnet. Frankfurt – das waren für mich diese wenigen Straßen, auf denen man Theatergeschichte erleben konnte. Ein paar Meter von dem Laden entfernt lagen die Gästeapartments des Frankfurter Schauspielhauses. Dort hatte ich des Öfteren mit der Schauspielerin Joana Maria Gorvin gefrühstückt. Sie nannte mich immer nur Kind.
Ich war traurig und wusste, eine Zeit war vorbei. Die Frankfurter Zeit. Eine Zeit, in der Kultur sich mischte mit Alltäglichem, mit Kindheit. In dem Laden mit der Trauerkleidung blieb irgendwo dieses Kind hängen.
Ein paar Tage später sollte meine Mutter dann, im hohen Sommer 1977, nicht im deutschen Herbst, in eine lebensbestimmende Ohnmacht fallen. Nach der offiziellen Trauerfeier in der Paulskirche am 5. August flüsterte ihr ein Gast der Trauergesellschaft aufgeregt zu: »Bei Ihnen zu Hause brennt es!«
Da konnte sie nicht mehr.
Nach dem Verlust ihrer Eltern bei einem Bombenangriff in Berlin, dem Verlust beider Großelternhäuser in Schlesien, dem Fluchtschicksal, dem tapfer und unbeschwert gemeisterten Neuanfang in den Nachkriegsjahren, der Kleinidylle in Hamburger Vororten und der Begleitung einer kurzen sogenannten Managerkarriere ihres Mannes war sie im Alter von 48 Jahren Zeugin von RAF – Terror und Mord in den eigenen, mit viel Lebensmühe aufgebauten Wänden geworden.
Dort bedrohten Terroristen nun ein zweites Mal, während der offiziellen Trauerfeier, ihre und unsere Lebenssicherheit. Es gelang den bis heute unbekannten Aktivisten, einen Sprengsatz in einem Gartenhaus auf unserem Grundstück zu deponieren und explodieren lassen, obwohl zahlreiche Polizisten zur Bewachung von Haus und Garten abgestellt waren. Ein zweiter Angriff auf das eigene Leben, und das auch noch unter dem Mantel des Schutzes.
Das war eine Zäsur auf dem Lebensweg meiner Mutter. Ein Lebensweg, der symbolisch herhalten sollte für eine sogenannte kapitalistische Geschichte, der aber wesentlich geprägt war von dem mehrfachen Verlust von Heimat, von Verletzungen
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