Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
auch genau andersherum sein kann. Ich kann nie voraussagen, wie sie reagiert.
Wir setzten uns auf das Sofa im Wohnzimmer. Meine einundachtzigjährige Großmutter nahm meine Hand. Ich erzählte ihr, was ich bis jetzt wusste. Sie zitterte leicht, was sie sonst nie tat. Sie ist kein schwacher Mensch, in keiner Hinsicht. Selten zeigt sie jemandem ihre Angst – nicht einmal mir. Nana Mama scheint mit zunehmendem Alter nichts von ihrer inneren Kraft zu verlieren; stattdessen wird diese Kraft immer strahlender, konzentrierter.
»Dieser Mord an der Sojourner Truth School hat mich sehr getroffen«, sagte Nana und senkte den Kopf.
»Ich weiß. Ich konnte den ganzen Tag an nichts anderes denken. Ich ermittle in jeder möglichen Richtung.«
»Weißt du viel über Sojourner Truth, Alex?«
»Ich weiß, dass sie eine einflussreiche Abolitionistin war, eine Exsklavin.«
»Man sollte Sojourner Truth in einem Atemzug mit Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton nennen, Alex. Sie konnte nicht lesen, deshalb hat sie für den Unterricht die Bibel auswendig gelernt. Sie hat viel dazu beigetragen, dass hier in Washington die Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln aufhörte. Und jetzt dieses scheußliche Verbrechen an der Schule, die ihr zu Ehren benannt ist.
»Schnapp ihn dir, Alex!«, stieß Nana plötzlich mit leiser, beinahe verzweifelter Stimme hervor. »Bitte, schnapp dir diesen grässlichen Kerl. Ich kann kaum seinen Namen aussprechen: Chucky . Es gibt ihn tatsächlich, Alex. Er ist kein Kinderschreck, den irgendjemand erfunden hat.«
Ich würde mein Bestes geben. Ganz bestimmt. Es war mein Mordfall. Ich wollte die Chimäre jagen, so gut ich konnte. Mein Verstand machte bereits Überstunden. Ein Kinderschänder? Jungs und Mädchen. Jetzt ein Kindermörder? Schneid-ihn-ab-Chucky? Gab es ihn tatsächlich, oder hatten verängstigte Kinder ihn sich nur ausgedacht? War er eine Chimäre? Hatte er Shanelle Green ermordet?
Nachdem Nana ins Bett gegangen war, hatte ich das Bedürfnis, eine Zeit lang das Klavier auf unserer Veranda zu bearbeiten. Ich spielte »Jazz Baby« und »The Man I Love«, aber das Klavier half mir an diesem Abend auch nicht.
Kurz bevor ich einschlief, erinnerte ich mich an den zweiten Mord. Senator Daniel Fitzpatrick war in Georgetown getötet worden. Was für ein Tag. Was für ein Albtraum.
Zwei Morde.
7.
Jack und Jill.
Sam und Sara.
Wer immer sie tatsächlich waren , die beiden lagen bäuchlings auf einem geschmackvollen Orientläufer in dem kleinen Wohnzimmer von Saras Apartment in Washington. Es war eine sichere Zuflucht für beide. Ein Feuer prasselte und knisterte. Duftende Apfelbaumscheite brannten. Sam und Sara spielten auf dem Teppich ein Brettspiel. Es war in jeder Hinsicht einzigartig. Das Spiel von Leben und Tod , nannten sie es.
»Ich komme mir vor wie ein verdammter liberaler weißer Yuppie in Washington, der an der Georgetown University studiert hat«, sagte Sam Harrison und lächelte über das unwahrscheinliche Bild, das er von sich entworfen hatte.
»He, diese Beschreibung trifft auch auf mich zu«, erklärte Sara und zog einen Schmollmund. Sie scherzte. Sie und Sam waren keine Yuppies. Sam auf gar keinen Fall.
Was aber nichts daran änderte, dass sie sich beide wie Yuppies verhielten. In der Küche brutzelte ein Perlhuhn. Der Duft zog verführerisch durch die Wohnung, während sie gemütlich auf dem Wohnzimmerteppich lagen und ein Gesellschaftsspiel spielten.
Aber es war nicht Monopoly oder Risk.
Sie spielten darum, wer ihr nächstes Mordopfer sein sollte. Ohne Hast ließen sie die Würfel rollen und rückten den Spielstein auf dem Rechteck aus Fotos vor. Sämtliche Fotos zeigten sehr berühmte Leute.
Das Spiel war wichtig für Jack und Jill, denn es war ein Glücksspiel mit Zufallstreffern, was es der Polizei oder dem FBI unmöglich machte, ihre nächsten Schritte vorauszusehen oder ihr Motiv zu ergründen, falls es eins gab.
Selbstverständlich gab es eins.
Sam würfelte und rückte den Stein vor. Sara betrachtete Sam im warmen, flackernden Feuerschein. Ihre Augen waren leicht verschleiert. Sie dachte an ihre erste Begegnung zurück, an den ersten Kontakt. Es war der Anfang ihrer Bekanntschaft gewesen, mit dem alles begonnen hatte, was jetzt geschah.
Ja, so hatte das komplizierte, schöne, sehr mysteriöse Spiel seinen Anfang genommen. Sie hatten sich im Café einer Buchhandlung in der Washingtoner Innenstadt verabredet. Sara war als Erste gekommen, mit wild
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