Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Augen wieder schließen.
Von einem stechenden Geruch wurde Paul erneut aus seinem Delirium gerissen. Er schreckte auf und sah sich verängstigt um. Woher kam der Geruch?
Er kam ihm bekannt vor. Die beißenden Gase erinnerten ihn an etwas – an etwas durchaus Angenehmes:
Grillsaison!, schoss es ihm durch den Kopf. Und dann, voller böser Vorahnung: Spiritus!
Plötzlich war Paul hellwach und bei klarem Verstand. Er musste seine Gedanken ordnen, sich seiner Lage bewusst werden: Jemand hatte ihn niedergeschlagen, so viel stand fest. Und dieser Jemand hatte ihn an die Heizung gefesselt. Spiritus bedeutete gemeinhin Feuer. – Feuer, verflucht! Jemand hatte Feuer gelegt!
Wieder versuchte Paul zu schreien – erfolglos. Denn der Knebel erstickte jeden Ton. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und juckten wahnsinnig!
Paul wand sich. Aber die Fesseln saßen stramm und duldeten nicht die kleinste Bewegungsfreiheit.
Der Gestank nach Brandspiritus wurde immer stärker. Plötzlich dachte Paul an Blohfeld. An seine Polizeistorys. Hatte der Reporter nicht neulich was von einer Einbrecherbande erzählt? Einbrecher, die, um ihre Spuren zu verwischen, Feuer legten?
Paul bäumte sich wie unter Krämpfen auf. Er wollte hier weg! Unter allen Umständen wollte er weg! Wenn doch nur diese Fesseln nicht wären!
Er wusste nicht mehr weiter. Niemals zuvor war er in einer solchen Situation gewesen. Niemals hatte er sich dermaßen ausgeliefert gefühlt. Er wollte frei sein, und wenn er das nicht konnte, wollte er wenigstens diesem Schwein von Einbrecher in die Augen sehen. Er wollte wissen, wie derjenige aussah, der ihm das angetan hatte. Er wollte ein Gesicht sehen, das er hassen konnte!
Wenigstens, solange er noch bei klarem Verstand war.
Schritte! Hatte er nicht gerade Schritte gehört? Paul spürte sein Herz rasen.
Tatsächlich. Da waren Schritte! Erst näherten sie sich, dann entfernten sie sich wieder, um gleich darauf wiederzukommen. Zwischendurch war es für einige Momente still.
Paul hielt die Luft an, um besser lauschen zu können. Er war höchst angespannt. Plötzlich wurden die Schritte hektischer, immer schneller und schneller.
Er lauschte. Versuchte, die Geräusche mit klarem Kopf zu analysieren. Schließlich war er sich sicher, dass es nur die Schritte einer einzelnen Person waren: eben die des Einbrechers!
Mit einem Mal klangen die Schritte ganz nah. Ausgeprägt laut und klar. Sie kamen auf die Küchentür zu! Angestrengt horchte Paul in die Leere des Raums. Er vernahm ein leises Schaben. Dann hörte es sich so an, als würde ein Schlüssel herumgedreht.
Die Tür ging auf. Ganz langsam. Licht aus dem Flur fiel in die Küche, so dass Paul geblendet wurde. Als er sich zwang, in die Helligkeit zu sehen, zeichnete sich der Schatten einer Person auf dem Fußboden ab. Eine Frau!
Paul riss vor Überraschung die Augen weit auf. Er wollte etwas sagen, wollte rufen und brüllen. Aber ihm blieben die Worte im Halse stecken. Auch ohne Knebel hätte er in diesem Augenblick keinen einzigen Ton heraus gebracht.
Es war Frau Henlein, die mit abschätzigem Blick und einer beinahe komplett geleerten Spiritusflasche in der Hand im Türrahmen erschienen war!
37
Paul war außerstande, sinnvolle Schlüsse aus dem zu ziehen, was sich vor seinen Augen abspielte: Frau Henlein? Sollte sie nicht in Regensburg sein, auf Kaffeefahrt? Eine Flut von weiteren Fragen strömte durch seinen Kopf: Warum war sie hier? Wo war der Einbrecher geblieben? Warum befreite sie ihn nicht? Und was wollte sie mit der Spiritusflasche in ihrer Hand?
Frau Henlein trat in die Küche, drehte die Flasche auf den Kopf und ließ den letzten Rest ihres Inhalts auf den Boden laufen. Dann warf sie die Flasche in eine Ecke, ging – ohne Paul auch nur anzusehen – zu einem der Küchenschränke, öffnete ihn und holte eine weitere Flasche heraus.
Was, zum Teufel, stellte sie da an, nochmal Spiritus?, durchfuhr es Paul. Was hatte die Henlein vor?
Die kleine dickliche Frau machte sich daran, auch die zweite Flasche zu entleeren. Mit fahrigen Bewegungen verteilte sie die Flüssigkeit über Küchenanrichte und Elektrogeräte, spritzte sogar etwas auf die Vorhänge.
Paul stieß einige undefinierbare Grunzlaute aus. In seinen Gedanken verfluchte er die Witwe mitsamt ihrer Spiritusflaschen aufs Schlimmste.
Dann kam Frau Henlein auf Paul zu. Sie näherte sich ihm bis auf einen Meter, ging in die Knie und schaute ihn von der Seite an. Ihre Knopfaugen fixierten
Weitere Kostenlose Bücher