Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
Vom Netzwerk:
06:10
    I n einer bereits seit langer Zeit zerfallenen Hausruine in einer abgeschiedenen Landgemeinde im Dalir-Bezirk saß ein einsamer Jäger und ließ seine Blicke über das Wasser des Hvammsfjörður hinüber zur Bergkette von Fellsströnd am jenseitigen Ufer des Fjordes gleiten, wo die obersten Bergspitzen von den ersten Strahlen der Morgensonne beleuchtet wurden, die sich einen Weg durch die Wolkengebilde im Osten gebahnt hatte. Die Berghänge darunter, das Tiefland zu ihren Füßen und der Fjord lagen hingegen noch in tiefem Schatten.
    Der Mann in der Ruine ging auf die fünfzig zu, hatte ein scharf geschnittenes Gesicht, war schlank und sah gepflegt aus. Er trug warme, solide Jagdkleidung in grünen, gelben und braunen Camouflagefarben. Eine dicke Mütze verhüllte seinen Kopf fast vollständig und ließ nur einen Teil des Gesichts frei, das mit den gleichen Erdfarben getarnt war. Er saß auf einem dunkelgrünen Klappstuhl, einem bequemen Jagdsitz, der leicht zu tragen war. Die Mauerreste des ehemaligen Wohnhauses schützten den Jäger vor Wind und verliehen ihm volle Deckung, sodass er von niemandem wahrgenommen werden konnte. Seine Schrotflinte steckte in einem grünbraunen Futteral und lehnte an der Mauer.
    Der schwarze Hund an der Seite des Mannes hatte seinen Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und rührte sich nicht. Nur die Ohren bewegten sich ab und zu, und die Schnauze zitterte leicht, aber die Augen waren geschlossen. Hin und wieder beugte sich der Mann zu dem Hund hinab und strich ihm sanftüber den Rücken. Sie warteten auf Graugänse auf dem Morgenstrich.
    Unterhalb der Hausruinen lag ein eingezäunter Kartoffelacker, an den sich ein kleines Wiesenstück anschloss. Auf dem Kartoffelacker befanden sich vierzehn Gänse, acht grasten, vier ruhten und zwei reckten wachsam den Hals. Es bedurfte eines geübten Auges, um in der Dunkelheit zu erkennen, dass es sich um Kunststoffgänse handelte, die als Lockvögel dienten. Der Mann hatte sie als Gruppe zwischen dem Kartoffelgras so aufgestellt, dass noch genügend Platz für einen weiteren Gänsetrupp war, der sich dort gegen den Wind einfallend niederlassen könnte. Die Entfernung war passend, etwa dreißig Meter.
    Ein winziges Rascheln war zu hören, als zwei Feldmäuse über die Mauerreste huschten und über die Hand des Jägers liefen, die oben auf dem Gras ruhte. Dann verschwanden die Mäuschen in einem Loch, und alles war wieder ruhig. Der Mann nahm den Geruch von taufeuchter Vegetation wahr, die sich auf den Herbst vorbereitete, und zerstampfter Erde im Inneren der Ruine. Dort bei den Mauerresten hatten Schafe im Sommer den Schatten gesucht, wenn die Sonne im Zenit stand und die Hitze für Mensch und Tier kaum zu ertragen war.
    Jetzt aber lag die Temperatur um null, und trotz seiner guten Ausrüstung fror der Mann ein wenig. Er verschränkte die Arme vor der Brust, horchte und hielt Ausschau nach dem neuen Tag, indem er auf den Fjord hinaus blickte, dessen Ufer noch im Dunkeln lagen.
    Bevor der Mann die ersten Laute von Gänsen auf dem Morgenstrich ausmachen konnte, öffnete der Hund die Augen und schnupperte. Es verging aber noch eine ganze Weile, bis er sie im Westen erblickte. Dort strichen Gänsetrupps landeinwärts an, machten aber nicht den Eindruck, als würden sie näher kommen. Er machte sich aber keine Sorgen deswegen. Seine Gänsewürden sich an diesem Morgen schon noch einfinden, das taten sie immer. In jedem Herbst kamen die gleichen Gänsefamilien zu diesem Fleckchen Erde, um zu fressen und Kräfte zu sammeln für den Zug nach Süden quer über den Atlantik. Der Bestand hier war wenig bejagt worden, und die Macht der Gewohnheit war stark. Selbst wenn der Jäger jede Woche ein paar Tiere erlegte, fand sich der Trupp doch immer wieder beim Kartoffelacker ein.
    Der Hund stellte jetzt die Ohren auf und hob die Schnauze. Sämtliche Muskeln des Tieres spannten sich an, aber trotzdem verharrte es völlig regungslos. Der Mann nahm vorsichtig das Gewehr aus der Hülle und lud es, eine ziemlich neue Fünfschuss-Pumpgun, Kaliber 12, Magnum-Patronen. Eine zuverlässige und handliche Waffe.
    Jetzt erschien ein weiterer Gänsetrupp und hielt näher auf ihn zu als der erste. Der Mann zählte neun Vögel. Kamen sie in Schussweite, würde er mit den drei Patronen, die im Lauf und im Magazin steckten, Beute machen können. Das wäre genug für diesen Morgen, und er könnte wieder zum Auto zurückkehren, um eine Tasse heißen Kaffee und die langersehnte

Weitere Kostenlose Bücher