Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
kann. Und dann gehe ich in die Mensa zum Mittagessen – jetzt, wo bei Mami abends der Herd kalt bleibt . . . Und ein warmes Essen pro Tag ist ja auch nicht zu verachten.«
Paul schob seinen Besuch bei Frau Henlein diesmal nicht vor sich her, sondern brach vom Weinmarkt aus gleich mit seinem Fahrrad auf. Wenn er erst in sein Atelier gegangen wäre, hätte er doch nur die ganze Zeit an Katinka und ihre Besuche bei ihm denken müssen. Die Ablenkung hingegen würde ihm gut tun.
Keine zehn Minuten später kam er an dem Mehrfamilienhaus am Sand an und lehnte sein Rad direkt unterhalb der haushohen Wandzeichnung an, die das Fischerstechen darstellte. Noch bevor er die Haustür erreicht hatte, sprach ihn eine ältere Frau an, die mit gekrümmtem Rücken in einem Rosenbeet werkelte.
»Grüß Gott«, rief sie ihm zu. Sie trug einen grünen Kittel und ebenfalls grüne Gärtnerhandschuhe, ihre Haare waren unter einem Kopftuch verborgen. »Wissen Sie, gute Pflege ist alles, wenn sie im nächsten Jahr wiederkommen sollen.«
»Wenn Sie das sagen, wird es schon stimmen«, beeilte sich Paul zu sagen, dem die Rosen und die Frau gleichgültig waren. Er wollte weitergehen, doch die Hobbygärtnerin hielt ihn auf:
»Und Sie möchten zu . . .?«
»Ähem . . .« Paul wusste wirklich nicht, was das diese Frau anging, aber es war ja kein Geheimnis. »Zu Frau Henlein«, sagte er und nickte zum Abschied.
»Den Weg können Sie sich sparen«, rief die Frau ihm hinterher.
Paul hielt erneut inne. »Wieso kann ich mir den Weg sparen? Ist Frau Henlein krank? Oder hat sie schon Besuch?«
»Nein.« Die Frau erhob sich und klopfte sich dunkle Erdbrocken von den Knien. »Sie ist nicht da.«
»Nicht da?«
»Verreist«, sagte die Frau mit einem wissenden Ausdruck in ihrem rötlichen Gesicht. »Sie fängt langsam an, das Witwenleben zu genießen. Wissen Sie, ich bin ja auch verwitwet. Seit sieben Jahren inzwischen. Mein Heinz hat mich . . .«
»Wo macht Frau Henlein denn Urlaub?«, unterbrach sie Paul, den diese Reise so kurz nach dem Tod von Henlein doch ziemlich überraschte.
»Wenn man es genau nimmt – ein richtiger Urlaub ist es eigentlich nicht. Die Henlein hat ja nicht viel Geld. Da sind keine großen Sprünge drin. Zumal es ja wohl noch lange dauern wird, bis ihr die Lebensversicherung ihres Mannes ausgezahlt wird.«
»Also?«, fragte Paul jetzt energischer. »Wohin ist Frau Henlein gefahren? Zu Verwandten, Freunden?«
»Nein, nein. Da gibt es nicht viele. Die Henleins blieben ja immer gern unter sich, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Die Frau schnipste sich mit dem rechten Zeigefinger einen letzten Krumen Erde von ihrem Hosenbein. »Auf Kaffeefahrt ist sie. Macht eine von diesen günstigen Busfahrten. Da liegen ja dauernd Werbeprospekte im Briefkasten. Nach Regensburg, glaube ich. Seit heute früh ist sie fort. Sie hat gesagt, dass sie schon am Sonntag wieder zurückkommt. Ihre Blumen brauche ich also nicht zu gießen.«
Paul bedankte sich für die Auskunft, verabschiedete sich nochmals und ging zurück zu seinem Fahrrad. Nachdenklich blieb er noch eine Weile unter der großflächigen Fassadenmalerei stehen.
Frau Henlein war also auf Kaffeefahrt. Was genau störte ihn an diesem Gedanken? Es war doch nichts Ungewöhnliches dabei, wenn eine trauernde Witwe auf andere Gedanken kommen wollte und sich einen kleinen Tapetenwechsel gönnte. Eine Busreise für ein paar Tage – völlig normal, oder nicht? Irgendwie hatte er ein merkwürdiges Gefühl bei der Sache. Warum war Frau Henlein gerade jetzt verreist, wo noch so viele Fragen in Bezug auf den Tod ihres Mannes offen waren? Und das Hauser-Hemd, war es überhaupt noch in ihrer Wohnung?
Mit diesen offenen Fragen hatte Paul einen idealen Vorwand gefunden, um seine eigenen Skrupel zu überwinden. Er nahm sein Rad, schob es langsam um die Giebelwand zur Flussseite herum und stellte es unter die Balkonkästen. Die Henleins wohnten im Parterre, der Balkon war entsprechend niedrig.
Er schaute sich mehrmals nach allen Seiten um, dann stieg er vorsichtig auf den Gepäckträger und weiter auf den Sattel des Rades. Mit seinen Händen konnte er das Geländer der Balkonbrüstung bequem umfassen, also war es für ihn ein Kinderspiel, sich daran hochzuziehen und seine Beine über die Brüstung zu schwingen.
In geduckter Haltung stand Paul auf dem Balkon der Henleins. Ganz sicher war das, was er gerade tat, alles andere als vernünftig. Erst sein unerlaubtes Eindringen in Zetschkes Büro am
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