Paul Klee - Die Lebensgeschichte
drängt ihn nach Hause zu fahren, um das umzusetzen, was er gesehen und erlebt hat. Diesmal besteigt er die Capitaine Pereire, winkt noch einmal von oben. Unten stehen Jäggi, seine Tochter und die beiden Malersleute, mit denen er diese wunderbaren Wochen verbracht hat. Sie rufen sich noch einige Worte zu, die der Wind zerstreut.
Schicksalsjahre
Eine Welt bricht zusammen.
Nichts ist mehr, wie es war.
I m August 1914 erhält Paul Post von Kandinsky. »Wo sind Sie? Hoffentlich auch in der Schweiz, das heißt in dem in Europa fast einzigen Lande, wo die Zukunftsatmosphäre nicht durch Hass vertrieben wurde … Was für ein Glück das sein wird, wenn die schreckliche Zeit vorüber ist.«
Am ersten Abend des Monats August hatte Berlin St. Petersburg den Krieg erklärt, als Reaktion auf die Weigerung Russlands, seine Generalmobilmachung rückgängig zu machen. Wenige Tage später richtet sich Deutschland auch gegen Frankreich und fällt in das neutrale Belgien ein, woraufhin sich England in den Krieg einschaltet. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen.
Paul hängt seinen Gedanken nach. Er will mit diesem Krieg nichts zu tun haben, kann sich nicht vorstellen, dass er etwas anderes als Unheil bringt. Gerade jetzt, wo er so zufrieden ist mit seinem ruhigen, friedlichen Leben – dank Lily, die ihm so viel Halt gibt, mit Felix und vor allem auch der Kunst. Nach Tunesien ist es ihm endlich gelungen, sich mit seinen Farbaquarellen einen Namen zu machen. Paul beschließt, dass dieser Krieg ihn
innerlich nichts angehen soll. Er wird einfach warten und hoffen, dass die Zeit schnell vorbei geht.
Doch ganz so einfach ist das natürlich nicht. Kandinsky ist, wie so viele andere, in die Schweiz geflüchtet. August Macke wurde bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn zum Militärdienst eingezogen. In seinen Briefen findet er für die Grausamkeit im Feld kaum Worte. Kurz darauf stirbt er an der Westfront, mit gerade einmal siebenundzwanzig Jahren.
»Der gierige Krieg ist um einen Heldentod reicher, aber die deutsche Kunst um einen Helden ärmer geworden«, schreibt Franz Marc in einem Nachruf über den Malerfreund. Franz selbst hat ein paar Tage »frontfrei«, die er in München verbringt. Paul sieht, wie sehr ihm das Geschehen im Feld zugesetzt hat. Das stille Lächeln ist aus seinem Gesicht verschwunden, und die feldgraue Unteroffiziersuniform schlackert um seinen abgemagerten Körper. In Paul steigen Hassgefühle auf: dieses verdammte Soldatenspiel! Doch Franz verspricht ihm mit ruhiger Stimme und schelmischem Lächeln, sich in Luft aufzulösen, sobald etwas Gefährliches am Himmel auftauchen sollte … Als er sich verabschiedet, liegt ein tiefer Schatten über seinem Gesicht.
Am 4. März 1916 fällt Franz Marc bei Verdun. Ein Splitter traf ihn in den Kopf. Paul ist erschüttert, verbringt den Abend unruhig, räumt Schubladen aus und wieder ein, versucht wenigstens äußerlich wieder etwas Ordnung herzustellen. Als ihn endlich die Müdigkeit überkommt, klingelt es an der Haustür: ein Telegramm mit seiner Einberufung in den Krieg.
Eingezogen
Eine Woche später ist Paul »Landsturmmann Klee«, Standort Rekrutendepot Landshut, Abteilung Gabelsbergerhof. Dabei hatte er doch nicht in die gottverlassene Provinz versetzt werden, sondern in München bleiben wollen. Aber seine Meinung ist hier offensichtlich nicht gefragt.
Bild 9
Paul (Bildmitte, stehend in zweiter Reihe) als Soldat der Landsturmkompanie Landshut, 1916
Pauls neues »Zuhause« ist ein Gastwirtschaftssaal, sein Bett ein Strohsack zwischen unzähligen anderen Strohsäcken, schön in Reih und Glied geordnet, dazwischen schmale Gänge zum Durchgehen. Nicht nur der unmittelbare Bettnachbar schnarcht. Paul fröstelt. Er hat Hunger. Wehmütig denkt er an Lily und Felix, die sicher gerade gemütlich in der wohlig warmen Stube beisammen sitzen.
Am nächsten Morgen um sechs Uhr heißt es: Aufsteh’n! Marsch, Marsch zum Frühstückskaffee, dann weiter, Marsch, Marsch zur kriegerischen Einkleidung. Die besteht aus einer schmierigen Uniform, derben Militärstiefeln und undefinierbarem Lederzeug. Paul kommt sich vor wie bei der Kostümprobe im Theater. Dem Exerzieren im Gelände – immer vier und vier – kann er dagegen schon fast etwas abgewinnen. Nicht denken müssen, einfach nur das tun, was einem befohlen wird. Das ist neu für Paul, aber gar nicht so schwierig. Die immergleichen vaterländischen Sprüche des baumlangen Oberstleutnants brennen sich in sein Gehirn
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