Pauline Reage - Geschichte der O
zarten und weichen kleinen Lippen trafen.
O fühlte, wie sie unter ihrer Zunge brannte und steif wurde und ließ sie ohne Unterlaß schreien, bis sie sich mit einem Schlag entspannte, wie eine zerbrochene Feder, feucht vor Lust. Später ging Jacqueline wieder in ihr Zimmer zurück, wo sie sich schlafen legte; sie war wach und ausgehfertig, als Rene sie um fünf Uhr zu einer Bootsfahrt mit Natalie abholen wollte, einer Fahrt in einem kleinen Segelboot, das sie oft benutzten; am Spätnachmittag erhob sich eine leichte Brise. »Wo ist Natalie?« sagte Rene. Natalie war nicht in ihrem Zimmer, sie war nicht im Haus. Rene rief im Garten nach ihr. Er ging bis zu dem kleinen Korkeichen-Wäldchen, das sich an den Garten anschloß, niemand antwortete ihm.
»Vielleicht ist sie schon in der Bucht«, sagte Rene, »oder im Boot.« Sie gingen, ohne weiter zu rufen. In diesem Augenblick sah O, die auf der Terrasse auf der Faltmatratze lag, Natalie aufs Haus zulaufen. Sie stand auf, zog ihren Morgenrock an - sie war nackt gewesen, weil es so heiß war - und band gerade den Gürtel, als Natalie wie eine Furie hereinstürmte und sich auf sie warf.
»Sie ist fort, endlich ist sie fort«, rief sie. »Ich habe sie gehört, O, ich habe euch beide gehört, ich habe an der Tür gehorcht. Du küßt sie, du streichelst sie. Warum streichelst du nicht mich, warum küßt du mich nicht? Weil ich schwarz bin, weil ich nicht hübsch bin? Sie liebt dich nicht, O, aber ich, ich liebe dich.« Und sie brach in Schluchzen aus. »Na schön«, sagte sich O. Sie drückte das kleine Mädchen in einen Sessel, nahm ein großes Taschentuch aus ihrer Kommode (es war eines von Sir Stephens Taschentüchern) und als Natalies Schluchzen ein wenig nachgelassen hatte, trocknete sie ihr das Gesicht, Natalie bat sie um Verzeihung und küßte ihr die Hände.
»Laß mich bei dir sein O, auch wenn du mich nicht küssen willst. Laß mich immer bei dir sein. Wenn du einen Hund hättest, ließest du ihn auch immer bei dir sein. Wenn du mich nicht küssen willst, sondern mich lieber schlagen möchtest dann kannst du mich schlagen, aber schick mich nicht weg.«
»Schweig, Natalie, du weißt nicht, was du sagst«, flüsterte O ganz leise. Die Kleine ließ sich O zu Füßen sinken, umklammerte ihre Knie und erwiderte, ebenfalls ganz leise: »Oh, doch! Ich weiß es sehr gut. Ich habe dich neulich morgens auf der Terrasse gesehen. Ich habe die Buchstaben gesehen und daß du große, blaue Male hast. Und Jacqueline hat mir gesagt«
»Hat dir was gesagt?«
»Wo du gewesen bist, O, und was man mit dir gemacht hat.«
»Sie hat dir von Roissy erzählt?«
»Sie hat mir auch gesagt, du wärst, du hättest ..«
»Ich hätte was?«
»Du trügst eiserne Ringe«
»Ja«, sagte O, »was noch?«
»Daß Sir Stephen dich alle Tage peitscht.«
»Ja«, sagte O wieder, »und er wird jetzt jeden Augenblick kommen. Geh, Natalie.«
Natalie rührte sich nicht, sie hob nur den Kopf und O begegnete ihrem bewundernden Blick. »Nimm mich in die Lehre, O, ich bitte dich«, sagte sie, »ich möchte sein wie du. Ich werde alles tun, was du mir sagst. Versprich mir, daß du mich mitnimmst, wenn du nach Roissy gehst.«
»Du bist noch zu klein«, sagte O.
»Nein, ich bin nicht zu klein, ich bin schon fünfzehn«, rief sie wütend, »ich bin nicht mehr zu klein, frag Sir Stephen«, wiederholte sie - denn er trat soeben ein.
Natalie erhielt die Erlaubis, bei O zu bleiben, und das Versprechen, daß sie nach Roissy gebracht würde. Aber Sir Stephen verbot O, ihr die kleinste Liebkosung beizubringen, sie zu küssen, und sei es auch nur auf den Mund, und sich von ihr küssen zu lassen. Sie sollte nach Roissy kommen, ohne von irgend jemandens Händen oder Lippen berührt worden zu sein. Dagegen verlangte er, da sie ohnehin immer bei O bleiben wollte, daß sie ihr auch nicht einen Augenblick von der Seite weichen solle, daß sie zusehen sollte, wie Os Mund ihre Schwester oder ihn selbst berührte, wie sie sich ihm hingab, sogar wie sie von ihm gepeitscht oder von der alten Norah mit Ruten geschlagen wurde.
Die Küsse, mit denen O ihre Schwester bedeckte, Os Mund auf dem Mund ihrer Schwester, ließen Natalie vor Eifersucht und Neid zittern. Aber sie saß unbeweglich auf dem Teppich des Alkovens am Fußende des Bettes, wie die kleine Dinarzade am Bett der Scheherezade, und sah jedesmal zu, wie O, am Holzgeländer festgebunden, sich unter der Reitpeitsche wand, wie O, auf den Knien liegend, demütig Sir
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