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Payback

Titel: Payback Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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Zusammenfassungen und Kommentare ihrer Kommilitonen zu lesen. Alle sechzehn Studenten hatten in der ersten Seminarstunde 5 Artikel gelesen und die entscheidenden Gedanken von 94 weiteren Aufsätzen aufgenommen. »Uns hielt es praktisch nicht auf unseren Stühlen«, schreibt Wesch auf seinem Blog, »wir fanden Verbindungen und debattierten Querverweise, wie ich es
niemals
zuvor in einem Proseminar erlebt habe.« 162
    Freunde pädagogischer Disziplin werden die Stirn runzeln und verkünden, dass, wer nicht lesen will, auch nicht studieren soll. Aber mittlerweile sollte klar geworden sein, dass der kognitive Akt des Lesens und der menschlichen Informationsverarbeitung nicht mehr ausschließlich eine Frage des freien Willens ist. Beispiele wie diese zeigen, dass die Vorstellung des nach DIN-Normen erfassten und in Aktenordnern archivierten Subjekts ebenso unpraktisch ist, wie es Aktenordner selber geworden sind. Die Computer tun nichts anderes, als mit der menschlichen Faszination der Suche zu spielen, mal zu ihrem Vorteil, mal zu ihrem Verderben. Aber Glücksbotenstoffe wie Dopamin werden nicht nur durch googeln freigesetzt; jeder, der einen Gedanken oder eine Lösung gefunden hat, ein Kunstwerk geschaffen oder eine Erkenntnis verinnerlicht hat, kennt das »Heureka« kognitiver Beglückung. Die Testpersonen, die Snellens Augenkarte verkehrt herum lasen, waren blind für das, was sie nicht erwarteten. Doch als man ihnen den
Prozess
erklärte, der sich eben vor ihren Augen abgespielt hat, waren sie imstande, daraus sofort Konsequenzen für ihr weiteres Leben zu ziehen. Die Ärzte, denen intuitive Regeln für den Umgang mit Statistiken beigebracht wurden, entwickelten eine neue Kreativität und ein sehr viel freieres Verhältnis zur angeblichen unwiderstehlichen Autorität von Zahlen.
    Solange die Konsequenzen der Informationsrevolution keine Konsequenzen in Schulen und Hochschulen haben, werden Wirtschaft und Politik nicht akzeptieren, dass die kognitiven Veränderungen der Menschen ein gesellschaftliches Faktum und keine Privatangelegenheit einzelner überforderter Menschen sind. Dabei geht es nicht darum, schon Kindergärten mit Com putern auzustatten - im Gegenteil. Es ist absurd, schon Kleinkinder auf Systeme zu schulen, die, wenn sie groß geworden sind, so veraltet sein werden wie heute der Rechenschieber. Alles spricht dafür, dass die Bildung der Zukunft darin bestehen muss, Unsicherheiten zu entwickeln. Sie muss Subjektivitäten, nicht Subjekte unterrichten. Das ist das Gleiche, was Ellen Langers Patienten die Angst genommen und das Leben gerettet hat. Das ist kein einfacher Vorgang, denn er zerstört die Illusion von Kontrolle, die uns Computer und ihre Algorithmen verschaffen. Der Psychologe Thomas Szasz hat es eine Verwundung des eigenen Selbstwertgefühls genannt, weil man auch von lieb gewonnenen Perspektiven Abschied nehmen muss, die einen bisher definierten. 163
    Doch die Erfolge von Wesch, der Langers »Aufmerksamkeit« in die Pädagogik übersetzt, sind offensichtlich, und es liegt auf der Hand, was zu tun ist. Es ist gar nicht besonders schwer, wenn man sich vom Zertifizierungswahn und der grotesken Verschulung heutiger Hochschulausbildungen verabschiedet. Und jenseits aller psychologischen und didaktischen Gründe: In Deutschland wird ein Großteil der heutigen Studenten Berufe ausüben müssen, die es zum Zeitpunkt ihres Studiums noch gar nicht gibt. Die Informationsgesellschaften sind gezwungen, ein neues Verhältnis zwischen Wissensgedächtnis und Denken zu etablieren. Tun sie es nicht, sprengen sie buchstäblich das geistige Auffassungsvermögen ihrer Bewohner.
    Das pure Wissensgedächtnis stammt aus Zeiten, in denen Information nicht nur rar war, sondern auch geschützt werden musste. Bibliotheken konnten verbrennen, und das Wissen, das ein Lehrer im Laufe seines Lebens angesammelt hatte, verschwand mit seinem Tod. Heute ist das Wissen buchstäblich in der Luft, die uns umgibt und die wir atmen. Eine kleine UMTS-Karte, nicht größer als ein Daumennagel, reicht aus, es abzurufen. Wir wissen nicht, was wir wissen müssen, indem wir statische Lehrpläne aufstellen. Im Informationszeitalter ist das notwendige Wissen abhängig von dem Kontext, in dem wir uns bewegen. »Wissen on demand«, wie der Internet-Vordenker Danny Hillis es formuliert, mag für viele eine schauderhafte Vorstellung sein, aber das ändert nichts an ihrer Wirksamkeit und daran, dass so unsere Zukunft aussehen wird. Und es ist

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