Payback
weitaus weniger schauderhaft als das, was in den letzten Jahren mit unserem Bildungssystem geschehen ist, das den finanzindustriellen Standards von weltweiten Abschlüssen und weltweit identischen Lerninhalten nacheiferte und so die deutsche Universität zu einer intellektuellen Controlling-Agentur machte.
Cornell, ohne Zweifel eine der angesehensten Universitäten der USA, hat beispielsweise das Programm »Gute Fragen« mit großem Erfolg eingeführt. Einige Stunden vor der Vorlesung stellen Studenten über eine interaktive Webseite ihrem Professor Fragen zum spezifischen Vorlesungsthema. Der Lehrer kann nun »just in time« seine Vorlesung an die Fragen der Studenten anpassen. Sie lernen nicht mehr, was sie wissen müssen, sondern was sie nicht verstanden haben. Die Erfolge des »tiefen Lernens«- ein Zwilling des »tiefen Lesens«, von dem Maryanne Wolf spricht - sind enorm. »Just in time«-Bildung ist in Wahrheit nichts anderes als die Wiederkehr des alten platonischen Symposiums mit den Mitteln moderner Technologie. Sie funktioniert selbst für die klassische Vorlesung, die sich am stärksten am alten Sender-Empfänger-Modell (einer spricht, alle hören zu) der Vergangenheit orientiert.
»Erziehung ist viel mehr als der Transfer von Informationen«, erklärt ein Harvard-Physiker, der das Programm übernommen hat, »die Information muss assimiliert werden. Die Studenten müssen die Information mit dem verbinden, was sie bereits wis sen, geistige Modelle entwickeln, das neue Wissen in völlig unbekannten Situationen testen und anwenden lernen.« 164
Wir befinden uns mit unseren Köpfen noch zwischen zwei Welten: die alte, in denen Wissen im Kopf gespeichert werden musste, und die neue, in der die Systeme die Speicherung übernehmen. Systeme, die uns Wissen und statistische Informa-tionen im Bruchteil eines Wimpernschlags zur Verfügung stellen können. Vor Kurzem habe ich einem Gast den Weg zu unserem Treffpunkt erklären wollen, als mir einfiel, dass er bei Google arbeitet und diese Information von mir am wenigsten benötigt. Bald wird sie auch gar keinen Sinn mehr machen, weil über die Vernetzungen sein Handy ihm nicht nur den Weg sagt, sondern auch, wann er am besten losfährt, um pünktlich anzukommen. Das ist ein einfaches Beispiel, aber man kann es hochrechnen: nie wieder Wegbeschreibungen geben, heißt mehr Zeit zu haben. Für die künftigen Patienten von Ellen Langer heißt es: Die Information ist da, zugänglich und verschwindet nicht. Also kann man die Zeit dazu nutzen, mit dem Patienten Perspektivwechsel einzuüben, ihm klarzumachen, dass das, was statistisch stimmt, für ihn nicht zutreffen muss. Auch die Probanden von Ellen Langer aus den internetfreien Zeiten erlebten längst ihre Version von Informationsüberflutung. Und in vielem hatten sie es schwerer als wir, damit umzugehen.
Heute haben wir noch immer das Gefühl, dass die Informationen vor uns davonlaufen, wenn wir nicht schnell genug sind, sie zu absorbieren. Aber sie laufen nicht davon, sie werden gespeichert. Selbst die SMS verschwindet nicht wieder und lässt uns hungrig zurück. Nur denken wir das, weil wir selbst mit E-Mails so umgehen, wie wir es in der Schule gelernt haben: Aufpassen, Information aufnehmen, auswendig lernen, verinnerlichen. Aber das führt automatisch dazu, dass jede Information den gleichen Rang bekommt und wir nicht mehr unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht.
Wir scheinen zu glauben, dass wir unsere Intelligenz, Bildung und Kreativität dadurch sichern, dass wir mit den Computern in einer Art spannungsgeladener Koexistenz leben. Aber es gibt keine Koexistenz. Wir müssen die Computer tun lassen, was sie tun können, damit wir frei werden in dem, was wir können, um sie mit neuen Befehlen zu versorgen. Digitale Informationen verschaffen uns die Möglichkeit, die Informationen zu überdenken, statt sie zu sammeln. Wir müssen den Weg nicht mehr beschreiben, also können wir über das Ziel nachdenken. Wir müssen nicht erst mühsam auf Nahrungssuche gehen, wir können uns gesund ernähren. Die heutige Babyboomer-Generation, die aufgewachsen ist zwischen der Schule der siebziger Jahre, der Kinderstunde und MTV, hat die größten Mühen, die Lern-Disziplinierungen der Vergangenheit zu verlernen. Sie stammt aus einer Welt, in der Bildung ebenso Massenproduktion war wie die Herstellung von Autos.
Doch wir wissen nicht mehr, was Lernen und Lehren
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. Das zeigt sich dort, wo über unsere Zukunft
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